Montag, Dezember 14, 2009

Von Deutscher Scholle zu Russischer Abstraktion


Robert Sterl (1867-1932)
Kartoffelernte ca 1905
Öl auf Leinwand 37,5 × 57 cm
Kunsthistorisches Museum Görlitz

Eigentlich ist in der oberen Hälfte des Bildes alles dargestellt. Zwei Pferde, braun und schwarz, angespannt vor einen Pflug, der schon keinen Platz mehr auf dem Bild findet, stehen passgenau in der linken oberen Bildecke und geduldig im Rücken der Kartoffelleserinnen. Mit Kopftuch und blaugrauer Arbeitskluft knien diese oder bücken sich in den Ackerfurchen, die perspektivisch auf den Rand ihres Dorfes zustreben, das in der Ferne als schmales grünes und blauviolettes Band den hohen Horizont bildet. Dominant aber sind weder Mensch noch Tier, nicht Baum oder Haus, sondern das weite Meer der arbeitsbewegten beigebraunen Scholle. In sie hat der Maler seine ganze bildnerische Energie gelegt, in ihr links unten sein bescheidenes Monogramm vergraben. Insofern ist die untere Hälfte des Bildes sicher die interessantere und wichtigere für das Verständnis von Robert Sterls Interpretation seines weit verbreiteten Motivs - Kartoffelbuddler, professionelle wie selbsternannte, gab es allenthalben auf deutschen Landen und Leinwänden zwischen deutsch-französischem und erstem (Welt-)Krieg.

Wilhelm II konnte mit dieser kaiserfernen „Armeleutemalerei“ nicht viel anfangen, auch wenn er die „Kartoffelernte“ wohl nicht als „Rinnsteinkunst“ bezeichnet hätte. Bezog er dieses Schimpfwort doch eher auf das, was aus dem Land des französischen Erbfeindes kunstmäßig an die deutschen Akademien oder in die Berliner Museen und Galerien zu schwappen drohte. Und doch, als der Maurer- und Steinmetzsohn Robert Sterl aus dem Dresdner Stadtteil Dobritz 1881 sein Studium an der Dresdner Kunstakademie beginnt, hat sich die französische Variante des europäischen Impressionismus fast schon erledigt - auch wenn die Kunde von ihr bis dahin noch gar nicht bis Dresden durchgedrungen war. So geht Robert zunächst in eine konservativ antimoderne, in eine akademische Zeichen- und Mallehre und wechselt die folgenden zehn Jahre lustlos zwischen mäßig kolorierter Historienmalerei und biedermeierlichen Genreszenen. In seiner Freizeit knüpft er Kontakte zum Goppelner Künstlerkreis, der sich in dörflicher Umgebung vor den Toren Dresdens, quasi in einem Barbizon an der Elbe, mit freier (Mal-)Arbeit vor der Natur beschäftigt. Naturalismus ist angesagt, und die Fachwelt hatte schon 1869 auf der 1. Internationalen Kunstausstellung im Münchner Glaspalast erstaunt die französischen Ergebnisse dieser Freilichtmalerei auf deutschem Boden bewundern können. Danach gab es dann landauf landab kein Halten mehr: Künstlervereinigungen gründen Malerkolonien, besuchen sich gegenseitig und malen miteinander unter freiem Himmel und vor dem Motiv. Netzwerke entstehen und bald private Kunstschulen, die ein neues, antiakademisches Verständnis von künstlerischer Ausbildung realisieren und die Restriktionen der Ausstellungsjurierung bei den jährlichen Salons umgehen. So entsteht in Deutschland 20 Jahre nach dem Französischen Impressionismus eine zweite Variante des europäischen Impressionismus, ohne diesen je vor Ort und zu seiner Zeit eigentlich kennengelernt zu haben.

So ist es nicht verwunderlich, dass auch Robert Sterl nach erfolgreichem Abschluss seines Dresdner Akademiestudiums 1893 nach Frankreich reist, seine Sommermonate mit befreundeten Maler(inne)n bis 1904 im hessischen Wittgenborn verbringt und 1894 nach dem Vorbild der Münchner Secession den Verein bildender Künstler Dresden mit begründet, aus der zwei Jahre später eine Malschule für Damen erwächst. Sterl beschließt das 19. Jahrhundert auf der Seite der künstlerisch Alternativen, bevor er ab 1906 als Professor an der Dresdner Kunstakademie Studienreisen zum Zwecke der Freilichtmalerei nach Holland und Worpswede in das akademische Ausbildungscurriculum aufnimmt.

Zwei Jahre zuvor war Robert Sterl auf Probe als Akademielehrer angestellt worden, und genau in diese Zeit fallen seine Beobachtungen bei der „Kartoffelernte“, die somit unerwartet Zeugnis seines künstlerischen Credo wird: Auf der Suche nach Ursprünglichkeit widmet sich der Künstler zunächst dem Thema „Auf dem Lande“, ganz konkret bei Erntearbeit, bäuerlicher Vorratswirtschaft, Rinderschwemme oder auch im Steinbruch, kunstgeschichtlich und -theoretisch geht es um die Durchdringung des Naturalismus und Realismus des 19. Jahrhunderts. Dabei verfährt der Impressionismus in Deutschland weniger radikal in Farbgebung und Formauflösung, es geht um eine tiefere Bildaussage, nie aber um Sozialkritik. Die unverfälschte, wahre Kunst ist das Ziel, der französischen Leichtigkeit steht die deutsche Ernsthaftigkeit gegenüber, mit einer meist weniger lichten Farbpalette, dafür aber einer geschlossenen Bildform und Bildthemen, die neben Natur, Landschaft und Interieur letztendlich Sujets der Arbeitswelt und der weniger privilegierten Schichten salon-fähig machen. Allein mit dem Mittel der außergewöhnlichen Bildkomposition stellt uns Robert Sterl seine Kunst-Botschaft vor und dar.



Robert Sterl (1867-1932)
Am Hafen von Astrachan
Hinter Schiffsmasten aufragende Kirchtürme
ca 1910
Öl auf Leinwand 47,5 × 54 cm
Privatbesitz


Hätten wir die Kirchtürme hinter den Schiffsmasten nicht auch selbst erkannt? Da ist sich der Künstler eben nicht sicher. Wir schreiben das Jahr 1910, fünf Jahre sind seit der „Kartoffelernte“ verstrichen, und Wassily Kandinsky hat in München schon die Vorbereitungen zu seinem „Ersten abstrakten Aquarell“ abgeschlossen. Robert Sterl und der Deutsche Impressionismus haben es bis in die Akademie geschafft, aber die Entwicklung der Modernen Kunst legt ein rasantes Tempo vor - und wieder drängt Paris. Ab 1908 unternimmt Sterl mit seinem russischen Freund Nikolai von Struve bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs vier Russlandreisen. Das Thema des „Geistigen in der Kunst“ begegnet ihm in dieser Zeit auf Schritt und Tritt. In Italien hatte Filippo Tommaso Marinetti gerade 1909 sein erstes futuristisches Manifest veröffentlicht und damit den Anspruch erhoben, eine neue Kultur zu begründen, Kasimir Malewitsch entwickelt in Russland daraus seinen Suprematismus, der als erste konsequent ungegenständliche Kunstrichtung die Stilrichtungen De Stijl und das Bauhaus beeinflusst, und die Anhänger des Konstruktivismus als einer weiteren Ausdrucksform der abstrakten Kunst vertreten ein technisches Gestaltungsprinzip mit meist großen Farbflächen und geometrischen Grundformen. Die abstrakte Malerei bedeutet insofern einen Bruch mit dem fundamentalen Grundprinzip traditioneller Malerei, als bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Objektbezogenheit, also die Abbildung real existierender Dinge, universaler und stilunabhängiger Bezugspunkt des künstlerischen Schaffens war. Ein abstraktes Bild kann Dingliches in Ansätzen und in stark abgewandelter Form noch erkennen lassen oder auch völlig aus Formen und Farben bestehen, ohne real existierende Gegenstände wiedererkennbar abzubilden. Insofern ist Abstrakte Kunst zu unterscheiden von „gegenstandsloser Kunst“, die keine Abbildfunktion besitzt.

Der deutsche Impressionist Robert Sterl entschließt sich zu einer reinen Farbigkeit, die sich den Farbzuordnungen der Seh-Erinnerung des Betrachters verweigert und seinen Motiven expressive Qualitäten verleiht. Zwar wagt er noch nicht den Schritt, jeden Bezug zur Gegenständlichkeit zu vermeiden und das Gemalte lediglich auf Form- und Farbklänge und ihre innerbildlichen Bezüge und Gegensätze zu beschränken, wie es ein Jahr später (oder waren es doch drei?) Kandinsky in seiner rein abstrakten Malerei tut, aber er erkennt klar seine neue Bild-Sprache. Dennoch will er verstanden bleiben, stellt bei aller neuen, nun nicht mehr allein formgebundenen Farbkraft seine prinzipielle Gegenständlichkeit nicht in Frage, sieht sich aber zur Klar-Stellung veranlasst und nutzt dazu die Titel seiner Bilder. Das Neue in der Wahl und Gestaltung des Motivs erscheint im Gewand des inzwischen akzeptierten Anspruchs künstlerischer Subjektivität, ohne das existentielle Wagnis künstlerischer Expressivität einzugehen.

Einige der Deutschen Impressionisten, und es sind gerade diejenigen, die in tiefe Vergessenheit geraten sind, gelangen in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bis an die Schwelle des Expressionismus und der Abstraktion. Sie haben mit ihrer ganzen Energie die Restriktionen der Akademie überwunden, diese weitgehend zu einer selbstbestimmten Ausbildungsstätte und Interessenvertretung moderner Kunst umgestaltet, aber die entscheidenden, zukunftsweisenden Schritte der Jüngeren vollziehen sie nicht mit. Ihre Haltung ist individualistisch, kosmopolitisch und demokratisch, ihre Kunst aber bleibt ohne sozialkritische Ambitionen unpolitisch. Ihr Ziel war nicht die Analyse und Veränderung der politischen Rahmenbedingungen ihres Kunstschaffens, sondern der Auf- und Ausbau ihres ureigenen Terrains, der bürgerlichen „Kultur“ - und dies bedeutete vielfach Enthaltsamkeit und Abkehr von wilhelminischer Kultur-Politik. Die Deutschen Impressionisten mischen sich nicht ein, sie repräsentieren - wenn es denn gelingt, dies zu entdecken - eine „sanfte künstlerische Revolution“, die erschöpft von antiklassizistischer Überwindung der Akademie gerade noch das Zugeständnis künstlerischer Subjektivität erlangt. Beides aber sind unerlässliche Voraussetzungen für die bereits gleichzeitig aufscheinende Moderne von Expressionismus und Abstraktion. Es ist das Verdienst von Jutta Hülsewig-Johnen, nicht bei „Sonnenlicht und Gemütlichkeit“ stehen geblieben zu sein, sondern diese Malerei als Scharnier zwischen Tradition und Moderne erkannt und mit dem sympathischen Etikett des „Sanften Revolution“ versehen zu haben, einer Begrifflichkeit, die weiteres Nachdenken verlangt.

Der Deutsche Impressionismus
bis 28. Februar 2010 in der Kunsthalle Bielefeld

Es erwarten Sie über 180 Werke in einer großen thematischen und stilistischen Vielfalt. Erstmals zeigt die Kunsthalle Bielefeld in einer Überblicksausstellung den deutschen Impressionismus als eine landesweit auftretende Kunstbewegung, die eine eigenständige Variante des großen französischen Vorbilds war.
Zur Ausstellung erscheint ein Katalogbuch bei DuMont mit ca. 180 Farbabbildungen sowie ca. 50 historischen Fotografien, 258 Seiten, 24,95 € an der Museumskasse. Ausstellungsbegleitend werden ein Einführungsfilm, ein Audioguide sowie ein attraktives Vermittlungsprogramm angeboten.

Weitere Informationen hier
http://www.kunsthalle-bielefeld.de/