Dienstag, Oktober 30, 2007

1937_5: Nah dran

Margaret Bourke-White "Louisville, Kentucky" 1937
Silbergelatineabzug, 25 x 34 cm
Rheinisches Landesmuseum Bonn
mit freundlicher Genehmigung der Kunsthalle Bielefeld

Dem melancholischen Blick amerikanischer Künstler auf die Folgen der Weltwirtschaftkrise (siehe 1937_4) tritt im Medium der Fotografie und in der Person von Margaret Bourke-White (1904 New York - Stamford Ct. 1971) die politisch, gesellschaftlich und sozial engagierte Sichtweise zur Seite. Vor dem Hintergrund der glücklichen nord-amerikanischen Durchschnittsfamilie - Vater, Mutter, Sohn und Tochter, lebens- und unternehmungslustig wie das begleitende, fidele Schoßhündchen, unterwegs im eigenen Mittelklasseauto aus landeseigener Produktion - steht das Lumpenproletariat brav in Schlange an für südstaatliche Sozialhilfe und nahrhafte Garküche. Zwanzig Jahre bevor Andrew Hacker im "American Political Science Review" von 1957 "WASP" definierte, gebildete "protestantisch weiße Angelsachsen" der oberen Mittelklasse, gelegentlich auch Vertreter des amerikanischen (Geld-)Adels, fotografierte Bourke-White ausgebeutete Kleinpächter in den Südstaaten der USA, auf diesem Foto allesamt "non-whites", in Zeiten tiefster Depression vor der Illusion des amerikanischen 3-Sterne-Lebensstandards. Mit diesem zutiefst sarkastischen Kommentar zur WASP-Ideologie "From Rags to Riches", vom Tellerwäscher zum Millionär, konterkariert sie den Amerikanischen Traum vom "American Way of Living". Wie zufällig wirken ihre Inszenierungen der Isolation und Orientierungslosigkeit des Individuums abseits der städtischen Öffentlichkeit. Zusammen mit ihrem Ehemann und Schriftsteller Erskine Caldwell legt sie 1937 die Foto- und Textstudie "You Have Seen Their Faces" vor. Ihr distanzierter Blick auf die Gesichter dieser Gesellschaft enthüllt ausschnitthaft und damit paradigmatisch Einsamkeit und Entfremdung ihrer "fellow citizens". Und sie bezieht sich selbst ein in diese Szene, fotografiert als Mitglied der gleichen WASP-Kaste aus ihrem eigenen PKW, der über die gleichen scheibenwischenden Statussymbole verfügt, die im Foto spiegelbildlich angeordnet die Schlange der portraitierten Gegenwelt zwischen dem Breitwandplakat des sympathischen amerikanischen Mittelstands und dem verwandten aber unbestechlichen eigenen Blick der Fotografin vorbei defilieren lässt.
Nach ihrem Studium beginnt Margaret Bourke-White 1927 als Industriefotografin und wird bald zur Vorreiterin für Arbeiten der "Farm Security Administration", die Roosevelts Kampagnen des "New Deal" dokumentieren sollte. Qualifiziert dazu hatten sie ihre Reisen nach Deutschland und in die Sowjetunion zwischen 1930 und 1932, von denen sie mit Bildberichten über zerrissene Lebensgeschichten in einer sich auflösenden europäischen Gesellschaft heimkehrte und die sie zu einer der Hauptfiguren der modernen Sozialfotografie machten. Aus politisch-zeitgeschichtlichem Engagement gegen die Nationalsozialisten initiierte sie 1936 in New York die Aktion "Artists Against War and Fascism" und veröffentlichte unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg im April 1945 erschütternde Bilder des befreiten Konzentrationslagers Buchenwald.

Das Foto als Instrument der Aufklärung übersteigt im gesellschaftspolitischen Anspruch Bourke-Whites die Fotoprojekt-Aufgaben der staatlichen "Resettlement Administration" von Präsident Roosevelt, dem es mit den Arbeiten z.B. von Dorothy Lange gelang, einerseits das entbehrungsreiche Leben und die verheerenden Folgen der Weltwirtschaftskrise in den ländlichen Regionen der USA festzuhalten, andererseits Menschen für soziale und politische Zwecke zu sensibilisieren. In diesem Anspruch finden in Amerika und Europa Fotografen zu einander, die sich primär entweder als agitierende Bildreporter oder dokumentarische Fotokünstler verstehen wie etwa der "Fotonomade" Walker Evans mit seinen Portraits des sozialen Lebens während der Depression in den USA.
1936 wird in New York die illustrierte Zeitschrift "Life" gegründet, die sich als "Speicher der Geschichte" begreift, in dem sowohl die themenorientierte Reportagefotografie als auch die zeitorientierte Portraitkunst ihre Heimat findet. Heimat auch für die vielen verfolgten und exilierten Künstler aus Deutschland und Europa, die nach Paris und London hier in New York in ihrer Gegnerschaft zur faschistischen Ideologie oft Isolation und ein ungewisses Schicksal erwartet. Dieser Entwurzlung und ambivalenten Existenz der (Foto-)Künstler sowie ihrem Kampf gegen den Faschismus in Deutschland und Italien kommen als neues Werkzeug für ihre "Propaganda" die kleinformatigen Kameras aus deutscher Produktion wie gerufen. Ihr Ziel am Vorabend des Weltbrands ist die Manipulation der Massen. Maxime für ihre Arbeiten ist das Urteil von Robert Capa (eigentlich Endre Friedmann): "Wenn das Bild nicht gut ist, warst du nicht nah genug dran!" Reportagefotografie spiegelt die Gefühle der Menschen in Zeiten existentieller Not. Es entstehen fotografische Bilder zwischen Portrait und Sozialfotografie von dokumentarischer Eindringlichkeit und vollendeter künstlerischer Empathie, Bilder von Guernica bis Auschwitz, deren Grauen und gleichzeitige Brillanz wie im Surrealismus (siehe 1937_6) schrecklich schön sind: "a terrible beauty is born".

Sonntag, Oktober 28, 2007

1937_4: Blick auf die Welt

Mark Rothko "Contemplation" 1937/38
Öl auf Leinwand, 61,3 x 81,6 cm
National Gallery of Art Washington
mit freundlicher Genehmigung der Kunsthalle Bielefeld

Der Maler dieser "Kontemplation" ist uns heute vor allem als Schöpfer teils großformatiger Farbfeldmalerei bekannt, die von der Kunstgeschichte einhellig als die bedeutendsten Gemälde des amerikanischen Abstrakten Expressionismus seit den 1950er Jahre bewertet werden. Dass dies auch die Einschätzung des kunstverständigen Publikums ist, die von finanzkräftigen Sammlern geteilt wird, beweist die Tatsache, dass sein Werk "White Center (Yellow, Pink, and Lavendel on Rose)" aus dem Jahr 1950 am 15. Mai dieses Jahres auf einer Auktion bei Sotheby's in New York für knapp 73 Millionen Dollar den Besitzer wechselte. Damit hat sich "White Center" (200 x 140 cm) in die Liste der zehn teuersten Gemälde der Welt eingetragen und den bei weitem höchsten Preis erzielt, für den ein Werk zeitgenössischer Kunst jemals auf einer Auktion erworben wurde.
Knapp 15 Jahre vorher hatte der gleiche Künstler noch ganz im Stil des Amerikanischen Realismus gemalt. 1910 war er mit sieben Jahren in die Vereinigten Staaten gelangt und hatte 1935 die nur neun Mitglieder umfassende Künstlergruppe "The Ten"(!) gegründet, deren Sekretär er wird. Diese fortschrittliche, dem Expressionismus und Experiment verpflichtete Künstlergruppe, veranstaltet Ende 1937 eine Auktion zugunsten der Kinder im Spanischen Bürgerkrieg und beweist so aus dem fernen Amerika ihren humanitären und visionären künstlerischen Blick auf die Folgen der Fliegerapokalyptik (siehe 1937_3) in Europa. Sein Name zu dieser Zeit ist immer noch Marcus Rothkowitz, 1903 als viertes Kind des jüdischen Apothekers Jacob und seiner Frau Anna im russischen Dwinsk, dem heute lettischen Daugavpils, geboren. Erst 1940, zwei Jahre nachdem er amerikanischer Staatsbürger geworden war, verkürzt er seinen Namen auf Mark Rothko, eine Änderung, die erst 1959, gut zehn Jahre vor seinem Freitod am 25. Februar 1970, legalisiert wurde.

Die Odyssee des Namens steht symbolisch für Rothkos Lebenslauf und Oeuvre. "Kontemplation" aus dem Winter 1937/38 in hellen und dunklen Braun- und Grünfarben ist ein Bild tiefer Melancholie, das durch eine ebenso eindringliche wie irritierende Aufteilung der Farbflächen besticht. Es zeigt eine offenbar in einem (Lehn-)Stuhl sitzende menschliche Figur in halber Rückenansicht und kontrapostischem Profil. Hinter ihr im rechten Bildteil ist auf einem schmalen (Fenster-)Brett eine auf einer dreibeinigen Säule montierte Glaskugel zu sehen, gefüllt mit einer milchig grauen, beleb(t/end)en Flüssigkeit. Wollen wir in ihr eine Weltkugel erkennen, so ist ihre Kartografie ebenso wenig ersichtlich wie der in einer Kristallkugel verborgene Blick in die Zukunft. "Blurred", verschwommen, ist das Bild dieser Glaskugel, aber eindeutig virulent. Beide Objekte sind in gleichem Abstand durch eine dünne, mattgrüne Vertikale getrennt, die auf dem Brett und einer weißen Horizontalen aufsetzt, die eine braunbeige Fläche begrenzt, die den gesamten unteren Bildteil einnimmt. Fläche, Horizontale und Vertikale schaffen eine räumliche Dimension und evozieren den Eindruck zweier Fensterflächen, durch die der Betrachter in einen Innenraum blickt, die wohl männliche Figur hingegen nach draußen. Diese und sämtliche anderen horizontalen und vertikalen Begrenzungen der Farbflächen sind geringfügig im Uhrzeigersinn geneigt, gerade so viel, dass eine Irritation des Blicks, nicht aber der Eindruck beschädigter Architektur entsteht. Das Gefühl latenter Instabilität und visueller Undefiniertheit erstreckt sich auch auf die Tristesse des kahlgrünen Raumes, der mehr als drei Viertel des oberen Bildraums einnimmt. Ob Rückwand oder höhlenartige Verlängerung der Zimmerflucht, das innere dunkelgrüne Rechteck des Innenraums, dessen linker quadratischer Teil die menschliche Figur umschreibt und rechts beinahe zentralsymmetrisch das Weltkristall einfasst, begründet farblich, kompositorisch und bedeutungstragend die beschriebenen Objekte der kontemplativen Melancholie. Neigt sich der Kopf der Figur in Rückenlage leicht nach links, so ist die Blickrichtung nicht eindeutig zu bestimmen – sie mag gedankenverloren die Außenwelt diffus touchieren, sie mag auf das einzige Wandobjekt geheftet sein, das raumhoch an der linken Wandfläche hängt im äußeren, hellgrünen Rechteck der Raumkomposition. Ohne eindeutig christliche Ikonografie evoziert das dargestellte weiße Objekt auf gelbem Trägermaterial Assoziationen von Andacht und Meditation, verweist also auf die Richtung der "Kontemplation" und ihrer Sehnsucht: "Erlösung" verspricht das enigmatische Objekt in der Bildmitte, das die grüne Vertikale zwischen Mensch und Zeit-Raum umschließt. Dieses schwarzgelb gefasste, thronartige Objekt lässt denken an exponiertes Kirchengestühl, Beichtstuhl oder Bischofssitz, einen Richterstuhl oder Katheder kultischer Handlungen und Verkündigungen auch ägyptischer oder islamischer Provenienz. Der Platz ist nicht besetzt und dominiert dennoch Komposition und Darstellung des Bildes. Er steht eigentümlich nah der Figur im Rücken, und seine schwarze Farbe bedrängt schicksalhaft deren weißgraue Gedankenwelt, ebenso wie sein sonnengelber Rücken symbolischen Bezug zur emblematischen Kugel im rechten Bildteil herstellt.

Ist der Sinn auch nicht eindeutig als Botschaft dechiffrierbar, so sind Düsterkeit wie Helligkeit auf dem Bild ikonografisch so zu deuten, dass das menschliche Schicksal nach dem New Yorker Börsenkrach vom 29. Oktober 1929 und der Weltwirtschaftskrise notgedrungenen einem Selbstbezug "Platz" schafft, dessen existentielle Qualität noch nicht feststeht. Nach der abgestürzten Industrialisierung und Kapitalwirtschaft der 1920er Jahre geht es dabei um die Idee der Würde, in deren Rahmen sich der Zweifel ausdrückt, ob die Not überhaupt zu ändern sei. Anstelle von ursprünglichem, nationalem Optimismus treten Wachsamkeit und Skepsis. Kunst platziert Weltlandschaft in sorgsam arrangierte Innenräume. Die Flucht der Gedanken führt in die Ecke von trostlosen Räumen. Dabei entstehen Denk-Bilder des amerikanischen Realismus, in denen auch Mark Rothko seine Epoche in sanfte, dunkel schwingende Farben versetzt. Fenstermetaphorik verlegt die Passage des Menschen in den inneren Raum und in eine ungewisse Welt nach dem unaufhaltsamen Zusammenbruch.

Diesem entschieden entgegen zu steuern hatte Franklin D. Roosevelt am 4. März 1933 bei seiner Amtseinführung als 32. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika versprochen. Sofort startet sein "New Deal", das größte Arbeitsbeschaffungsprogramm der Geschichte. Überall beginnt eine Zeit vermehrter Bautätigkeit zu öffentlichen Zwecken, und auch die amerikanische Kunst wird nach ihrem Engagement für das Land gefragt. Ab Oktober 1934 werden im Rahmen eines staatlichen Förderprogramms arbeitslose Maler zu Aufträgen in öffentlichen Gebäuden angestellt. Sie beziehen Handwerkerlöhne, um im öffentlichen Raum den Fresken der italienischen Renaissance nachzueifern. Voller Skepsis gegen europäische Standards schaffen diese Wand-Maler in ihren "murals" eine amerikanische Bildsprache für die Verschönerung öffentlicher Gebäude. In "American Scenes" entstehen Menschen im Stil Michelangelos, kraftvoll muskulöse Männer mit aufgekrempelten Ärmeln in den zeitgenössischen Landschaften von Industrie und Agrikultur. Die gewaltige nationale Aufgabe orientiert sich an der mexikanischen Revolutionskunst Diego Riveras nach Maximen von Regionalisierung und Sozialkritik und formuliert programmatisch "Kunst als Waffe". Wie nicht anders zu erwarten, erblickt dabei leider auch eine Vielzahl von erschreckend schrecklicher "Kunst" das Licht dieser Welt der "Works Progress Administration" (WPA).

Um 1937 findet deshalb die Kunst in den USA keinen euphorischen, sondern einen skeptischen, bisweilen ratlosen Ausdruck. Mark Rothko wird ab Juni 1936 für drei Jahre vom "Federal Arts Project" angestellt. Ihm ist es entscheidend zu verdanken, dass neben den Aufträgen für Wandgemälde auch Leinwandbilder, Skulpturen und Drucke gefördert werden. So entstehen von 1935 bis 1943 im Rahmen des "New Deal" rund 2.500 Wandgemälde, 18.000 Skulpturen, 108.000 Gemälde und 250.000 Grafiken. Roosevelt und seine Künstler vollbringen in Amerika die Vision einer kulturellen Demokratie aus dem Bösen Erwachen vor Inflation, Armut, Kriminalität und Ausbeutung. Im Gegensatz zur europäischen Moderne findet man in der amerikanischen Malerei von 1937 kein Grauen, sondern Melancholie und "Kontemplation", das mit Vorsicht und leichtem Schaudern erlebte Gefrieren von Geschichte und Gesellschaft weltweit. Im Gegensatz zur Ausgrenzung und Verfolgung der Moderne in Europa fand Amerika politisch Mittel und Wege, ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Notlage mit Unterstützung und Förderung auch der Kunstschaffenden zu mildern und zu überwinden. Welchen Einfluss diese optimistische Haltung auf die Entwicklung der nationalen Kunst gehabt hat, ist an deren weltweiter Positionierung nach 1945 abzulesen: Auch für den Staat – wie auch für jedes Individuum – lohnt sich die Investition in Kunst, auch und vor allem in Moderne.

Dienstag, Oktober 23, 2007

1937_3: Zwischen den Fronten

Alexander Deineka "Zukünftige Flieger" 1937
Öl auf Leinwand, 131 x 161 cm
Staatliche Tretjakow Galerie Moskau
mit freundlicher Genehmigung der Kunsthalle Bielefeld

Richard Oelzes Alptraum "Erwartung" (s. Folge 1937_2) orientiert sich im Bildaufbau an einem schon damals fast zehn Jahre alten Pressefoto, das nach der sensationellen Alleinüberquerung des Atlantiks von Charles Lindbergh in 33,5 Stunden ohne Zwischenlandung am 21. Mai 1927 in Paris aufgenommen wurde. Bereits 1919 war für das Wagnis eines Non-Stop-Alleinflugs zwischen New York und Paris ein Preisgeld von 25.000 US-Dollar ausgesetzt worden, das Lindbergh acht Jahre später gewann. Doch damit erlangte er nicht nur nationale Anerkennung in Amerika und die Ehre einer Konfettiparade in New York, er schrieb sich tief und lang andauernd in die Erinnerung auch der künstlerischen Elite in Europa ein. Erinnert sei nur an das musikalische Hörbild "Der Lindberghflug" von Bertolt Brecht aus dem Jahre 1929, das noch 1950 eine letzte der zahlreichen Bearbeitungen durch seinen Verfasser unter dem Titel "Der Ozeanflug" erfuhr. Flugzeuge und die (toll)kühne Fliegerei übten auch auf bildende Künstler eine magische Anziehung aus, die besonders im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht nur als häufiges Einzelmotiv, sondern als prägendes Sujet ganzer Kunstrichtungen fungierte. In dieser Form ging die "Aeropittura", wie sie in den Zwanziger Jahren in Italien genannt wurde, eine aus der Rückschau bedenkliche Verbindung mit nationalistischer Hochstimmung und nationalem Jubel auch in Deutschland, Italien, Spanien und der Sowjetunion ein: Im Februar 1931 veröffentlicht Filippo Tommaso Marinetti, der bereits 1909 das Manifest des Futurismus verfasst hatte, sein "Manifesto dell'Aeropittura". Hierin nimmt er die futuristische Ästhetik der Dynamik, Geschwindigkeit, Kurzlebigkeit und Intensität des Lebens in den Themen Geschwindigkeit, Bewegung, Zeit, Raum und Licht wieder auf. "Flugmalerei" propagiert technischen Fortschritt und ist das Angebot der Futuristen an das faschistische Regime Benito Mussolinis und dessen politische Erneuerungsbewegung seit März 1919. Ursprünglich als Zeichen eines neuen Bewusstseins, eines neuen Lebensstils entstanden, mündet sie 1937 als "Aeropittura di guerra" in der "Mostra di aeropitture futuriste" ein in unverblümte Kriegspropaganda für den Abessinienkrieg 1935/36.

Im Gegensatz dazu scheint Alexander Deineka (1899 Kursk - Moskau 1969) mit seinem Ölbild "Zukünftige Flieger" den Teufel irregehender Nationalideologie nicht mit dem Beelzebub avantgardistischer Kunst austreiben zu wollen. Zwar teilen seine drei jungen Burschen die gemeinsame Rückenansicht mit Oelzes Protagonisten des Bösen Erwachens, aber ihre Blicke treffen nicht auf infernalisches Schwarzbraun, sondern ganz im Gegenteil auf warme Sand- und helle Blautöne, in denen sich auch die Objekte ihrer Begierde spiegeln, drei Wasserflugzeuge, eines bereits stolz in den Lüften und zwei startbereit auf den schaumgekrönten Wellen des Schwarzen Meeres unmittelbar vor der Küste von Sewastopol. Es sind sehnsüchtige Blicke, die diese "zukünftigen Flieger" im Jahrzehnt fliegerischer Heldentaten auf ihre Identifikationsobjekte heften und damit Traumvorstellungen einer glorreichen Zukunft beschwören. In diesem Aspekt vergleichbar mit der völkischen Kunst des Faschismus, beschreiben die Bilder des Sozialistischen Realismus, für unseren Blick aus dem Westen von mediterraner Anmut, eine Ästhetik des Positiven, realistisch in der Form, sozialistisch im Inhalt. Gemälde wie dieses vermischen Traum und Wirklichkeit, streben eine massenhafte Identifizierung mit den plakativ reproduzierten Helden-Bildern und damit den staatlich propagierten Ideologien an. Hierin liegt die Schattenseite der sonnendurchfluteten russischen Kunst-Landschaften mit ihren wohlgeformten Menschenleibern, und dies führte am 17. Januar 1936 auch zur Gründung des "Komitees für Kunstangelegenheiten", das schon bald zentrale Kontrollinstanz über bildende Kunst, Theater, Musik und Film für Stalins Machtapparat wurde wie die "Reichskammer der bildenden Künste" für Hitler - und dies mit den gleichen verheerenden Folgen für die Kunst der Moderne: Stalins ständige Rede seit 1929 von Verschwörung, von Feinden im Innern, führt zur Allgegenwart der Geheimpolizei, zu willkürlichen Entlarvungen von "Spionen" bis hin zu Schauprozessen, Deportationen und massenhaften Erschießungen von Künstlern und Intellektuellen und gipfelt 1937, zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution, in einem Jahr des allgemeinen Verstummens. Angst, Belagerungs- und Ausnahmezustände, Räume des Terrors als Chiffre totalitärer Gewalt stürzen die Sowjetunion in ein mentales Chaos und machen sie zu einem Land der unversöhnlichen Gegensätze, in dem Kunst zwischen die Fronten gerät.

Es sind die gleichen Fronten wie die des Bürgerkriegs in Spanien, wo unter dem anhaltenden ökonomischen Druck im Nachklang der Weltwirtschaftskrise republikanische Demokratie gegen totalitäre Diktatur um ihr gesellschaftliches Überleben kämpft. Die Bombardierung Guernicas am 26. April 1937 ist das symbolische Fanal dieses Kampfes, der politisch verloren geht und in den 2. Weltkrieg mündet. Die Internationalen Brigaden des geistigen und künstlerischen Widerstandes stilisieren den Schrei und das Weinen zur politischen Ikonografie des Jahres 1937. Der einzelne, einsame Bauer und die schutzlose Frau mit ihrem Kind, das hiobartige Leiden der Bevölkerung, plakativ, theatralisch und episch inszeniert, macht bei den katalanischen Künstlern González, Miró und Picasso einem an der Neuen Sachlichkeit orientierten abstrakten Symbolismus Platz, der den Schrei mit Schnitten wie mit dem Skalpell seziert und dem Weinen mit harten Kontrasten und minimalen Linien breiten Raum für Entsetzen einräumt. Diese Kunst der Moderne wird Guernica überleben und Menschlichkeit ins 21. Jahrhundert retten.

Freitag, Oktober 12, 2007

1937_2: Böses Erwachen

Richard Oelze "Erwartung" 1935-36
Öl auf Leinwand, 81,6 x 100,6 cm
Museum of Modern Art New York
mit freundlicher Genehmigung der Kunsthalle Bielefeld

Sechs Frauen- und 14 Männer(hüte), ein Schock insgesamt, allesamt auf den ersten Blick gut situierte Bürger, starren angewurzelt mit dem Bildbetrachter auf ein Panorama des Schreckens, in dem Landschaft und Himmel unterschiedslos in einem schwarzbraunen Inferno verwirbeln. Es ist der Moment ihres bösen Erwachens. Mehr braun als schwarz malt Richard Oelze (1900 Magdeburg – Posteholz 1980) exakt den Moment der Stille, bevor ein vernichtender Sturm losbricht, der Menschen wie Natur gleichermaßen zerstören wird. Schwefelgelbes Höllenlicht beleuchtet von hinten die in Hut und Mantel uniformierten Menschen, die gleichgeschaltet in chaotischer Fixierung ihr Schicksal erwarten. Nur drei Personen auf der linken Seite der Gruppe wenden sich in drei verschiedenen klassischen Profilposen von der gesichtslosen Masse ab und dem Betrachter zu, ohne ihm jedoch ins Auge zu schauen - Antlitze von Jedermann (und -frau), deren Individualität der gleichschaltenden Macht ihres sich ankündigenden Schicksals gewichen ist. Das Unheilvolle hat in schwarzbraungelber Monochromie bereits einheitlich Mensch und Natur ergriffen, alle Zeichen stehen auf Sturm, und "Erwartung" hätte auch "Vorahnung" heißen können, "Wissen" um den unmittelbar bevorstehenden Verlust von Identität, Leib und Leben bis hin zu Schrecken und Grauen im 2. Weltkrieg, der die anbrechende Dekade abschließen wird. Der Maler teilt die Erfahrung von Entfremdung mit seinen Figuren, seitdem er am 31. März 1933 aus Dresden nach Paris emigriert war und dort mit Max Ernst, Salvador Dalí und André Breton Dada und den Surrealismus kennen gelernt hat. Sein Blick auf Realität und Zeitgeschichte ist an seinem Vorbild Otto Dix geschult, seine Bildwelt in ihrer Naturmetaphorik, die später das Unbekannte, Geheimnisvolle, Mystische mit dem Wirklichkeitsbezug seiner sachlichen Malerei verknüpft, seit 1921 in der privaten Malklasse von Paul Klee am Weimarer Bauhaus entstanden und wird nach 1945 nicht ohne Grund an einem Ort wie Worpswede fortgeführt.

In brauner Zeit schon wurde Oelzes zeichnerisches Talent und sein prophetischer Blick erkannt, sodass bereits 1940 "Erwartung" von Alfred H. Barr, dem Gründungsdirektor, für das Museum of Modern Art in New York angekauft wurde. Jetzt hängt es für einige Wochen in der Ausstellung "Perfektion und Zerstörung" in der Bielefelder Kunsthalle und vereint künstlerisch auf sich diese beiden für das Jahr 1937 charakteristischen Epitheta. Es ist das Jahr der Unkultur im 20. Jahrhundert, in dem der Nationalsozialismus in Deutschland seine faschistischen Perfektionsideale als Maßstab für die Zerstörung der Moderne am Beispiel der Kunst erprobt. Nationalsozialistische Kunst und Kultur gehorcht dem Diktat der Disziplin und des Heroismus in erstarrter Form: Soldatisches Pathos, eiserner Wille und stolzes Leid in möglichst stereotyper Wiederholung und pathetischem Handeln sind ihre Kennzeichen und Untugenden.

Seit der Eröffnung der ersten "Großen Deutschen Kunstausstellung" am 18. Juli 1937 im Münchener "Haus der Deutschen Kunst" werden ständig und in jährlicher Neuauflage vielhundertfach Exemplare dieser Kunstgattung in Malerei, Grafik und Plastik präsentiert. Zeitgleich werden Werke der deutschen Avantgarde aus deutschen Museen, Galerien und Privatsammlungen schon ab dem Frühjahr 1933 in sog. "Schreckenskammer"-Ausstellungen in Mannheim, München, Erlangen, Karlsruhe und Nürnberg gezeigt. Eine der ersten dieser Ausstellungen, die am 23. September 1933 in Dresden eröffnet wurde, trug bereits den Untertitel "Entartete Kunst". Am 19. Juli 1937, einen Tag nach Eröffnung der "Großen Deutschen Kunstausstellung" öffnete "Entartete Kunst" in den Münchner Hofgartenarkaden ihre Pforten: Am 1. September 1933 hatte Adolf Hitler in seiner Eröffnungsrede auf dem 5. Nürnberger Reichsparteitag gefordert, "dass unter keinen Umständen die Repräsentanten des Verfalls, der hinter uns liegt, plötzlich die Fahnenträger der Zukunft sein dürfen", jetzt, vier Jahre später, versichert Adolf Ziegler, Münchner Maler und Präsident der "Reichskammer der bildenden Künste", seinem Auditorium in den Hofgartenarkaden, dass nunmehr "alle die sich gegenseitig unterstützenden und damit haltenden Cliquen von Schwätzern, Dilettanten und Kunstbetrügern ausgehoben und beseitigt" würden.

Bis 1937 hat diese "kulturelle Säuberung" zum Zwecke der nationalsozialistischen "Wiedergeburt der Nation" das moderne kulturelle Leben Deutschlands zerstört. Kompromisslose Verfechter engagierter Kunst (Dix), Expressionisten der ersten Stunde (Heckel), betont "klassische" (Schmidt-Rottluff) und jüdische Künstler (Nussbaum, Freundlich, Meidner, Lea Grundig) werden pauschal der Denunziationsformel "jüdisch-bolschewistisch" unterzogen: Judentum, Sozialdemokratie, Sowjetkommunismus und moderne Kunst insgesamt werden mit dieser Negatividentifikation belegt. Am Anfang steht das Bauhaus in Dessau. Es wird bereits 1932 geschlossen. Max Beckmann wird im April 1933 als einer der ersten und berühmtesten, auch international renommierten Maler aus seinem Lehramt an der Frankfurter Städelschule entlassen, 1937 werden 101 deutsche Museen geplündert. Der "Säuberungskrieg" gegen alle unliebsamen Künstler ist in vollem Gange.

Die Bielefelder Kunsthalle selbst bietet ein denkwürdiges Entrée zum Thema der Ausstellung: Rodins "Denker" außen rechts vom Eingang kontrastiert Arno Brekers "Prometheus" links hinter der Kasse im inneren Foyer: Thomas Kelleins Verdikt des "Prometheus" als "die hohle, wenngleich brandgefährliche Nuss der Nazikunst" benennt, was den Besucher der Ausstellung erwartet, nämlich die existentiellen Zeugnisse der verfolgten Moderne vor 70 Jahren: Damals entstehen drastische Bilder des "Bösen Erwachens". Die Künstler stellen nicht nur die Angriffe und Ungewissheiten dar, denen sie selbst ausgesetzt sind. Sie zeigen in ihren Arbeiten, was sich seit den Dreißiger Jahren in Deutschland kulturell zusammengebraut hat und schildern prophetisch das Nahen einer weltweiten Katastrophe, in der Zweiter Weltkrieg und Holocaust vorprogrammiert sind. In den Arbeiten, die größtenteils unabhängig und ohne Wissen voneinander entstehen, erblickt man eine szenisch lesbare Gefahr, die lebensbedrohend auftritt. Diese Künstler haben von den Zielen der Nationalsozialisten und deren Konsequenzen gewusst. Sie waren, wie die Werke erkennen lassen, äußerst schockiert und haben sowohl den Krieg als auch die massenhaften Ermordungen von Zivilisten vorhergesehen. In ihren epochalen Werken geht es, wie auch in Richard Oelzes "Erwartung", um die Zerstörung von Kunst und Kultur und den unausweichlichen Gang aller in den Tod.

Sonntag, Oktober 07, 2007

1937_1: Kunst in Flammen

René Magritte "Die Entdeckung des Feuers" 1936
Öl auf Holz, 22 x 16 cm
Sammlung Mr. und Mrs. Gilbert Kaplan New York
mit freundlicher Genehmigung der Kunsthalle Bielefeld

Es hat schon seinen Grund, warum auch ein noch so gut bebilderter Katalog den Besuch einer Kunstausstellung nicht ersetzen kann: Hier ist der Grund der Rahmen, der zu jedem Bild gehört – und der in (fast) jedem Katalog schnöde abgeschnitten ist. Im Falle von René Magrittes gerade einmal schulheftgroßem Ölbild "La découverte du feu" aber schafft der Rahmen erst Platz zu seinem Verständnis: Er präsentiert die brennende Tuba als nackte Ikone, bar jeder bildlichen Accessoires, als finales Andachtsbild für die bereits angebrochene Apokalypse von Geist, Kunst und Kultur. Im Laufe von drei Jahren, zwischen 1933 und 1936, und nachdem er ein Jahr zuvor der Kommunistische Partei Belgiens beigetreten war, reduziert Magritte die brennende Trinität aus Tuba, Stuhl und Papier von "L'échelle de feu" auf dem Fußboden eines leeren Zimmers auf diesen veristischen Kontrapunkt zu den grellrealen Fanfaren des deutschen Nationalsozialismus und seiner europäischen Partner-Ideologien. Symbolträchtig von Thomas Kellein zum Leitmotiv seiner Ausstellung "1937" in der Kunsthalle Bielefeld gemacht, verkünden Bild und Titel seine versteckte Botschaft aus der Rückschau von 70 Jahren Kunst-Geschichte, wenn die Jahres-Zahl von den Beinen auf den Kopf gestellt wird und so ihr Geheimnis als Idee der Ausstellung preisgibt.

1937 wurde in München die Wanderausstellung "Entartete Kunst" mit über eintausend Werken von mehr als einhundert aus öffentlichen Sammlungen verbannten Künstlern eröffnet. Bis 1941 wanderte diese Femeausstellung durch das Großdeutsche Reich und wurde von über zwei Millionen Menschen, davon allein eine Million in München, besucht. "1937" steht synonym für den traurigen Höhepunkt des nationalsozialistischen Feldzugs gegen die Moderne. Auch Stalin hatte zuvor die russische Avantgardekunst aus den Museen entfernt. Im politischen Vorfeld hatte die Bombardierung Guernicas die Weltöffentlichkeit aufgeschreckt, denn nach dem Militärputsch General Francos 1936 rüstete sich Spanien ebenfalls gegen die Moderne. In der Kunstgeschichte steht das Jahr 1937 für den Beginn eines Alptraums der Plünderung und Zerstörung, die bei Werken der bildenden Kunst beginnt und als Vernichtungsmaschinerie ganzer Völker enden sollte. Die Ausstellung in der Bielefelder Kunsthalle macht diese Zeitstimmung des Jahres 1937 sinnlich erfahrbar. Kunstgeschichte wird zum Entwurf und Spiegel von Zeitgeschichte.

Am 30. September wurde die Ausstellung "1937. Perfektion und Zerstörung" in der Kunsthalle Bielefeld eröffnet. Die Bielefelder Synopse der Kunstproduktion aus Deutschland, Italien und Spanien, der Sowjetunion, Frankreich, England und den USA zeigt Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen, Graphik, Bücher, Fotos und Filme nahezu ausschließlich aus den schicksalhaften Monaten von Mitte 1936 bis Mitte 1938. Annähernd zweihundert Künstlerinnen und Künstler, mehr als vierhundert Leihgaben aus über siebzig internationalen Museen und von mehr als fünfzig Privatsammlern werden in zehn Themenbereichen präsentiert: Artus möchte Sie in den kommenden Wochen herzlich zu fünf Rundgängen durch diese 10 Abteilungen der vielleicht wichtigsten Ausstellung in der 2. Jahreshälfte 2007 in Deutschland einladen: 1937 lebt!