Dienstag, November 06, 2007

1937_6: Grauen vor der Geschichte

Max Ernst "Hausengel" 1937
Öl auf Leinwand, 54 x 74 cm
Pinakothek der Moderne München
mit freundlicher Genehmigung der Kunsthalle Bielefeld

Am 26. Februar 1937 kam Léon Mathots Leinwandmelodram "L'ange du foyer" in die Pariser Kinos, das Robert de Flers' dreiaktigen Komödienstoff aufnahm, der bereits am 19. März 1905, ebenfalls in Paris, uraufgeführt worden war. Max Ernst lebte und arbeitete in Paris und war als glühender Cineast bekannt. Die Bombardierung Guernicas am 26. April 1937 (s. ARTUS, Folge 1937_3) und die sich abzeichnende Niederlage der Republikanischen Armee in Spanien nimmt er zum Anlass für seine Fassung von "L'ange du foyer". Zuerst entstehen die hier abgebildeten "Hausengel" in weiter Landschaft, danach in überarbeiteter Fassung lediglich der Kopf seines großen "Trampeltiers" auf fast gleicher Leinwandgröße, bevor er auf dieser Basis seine Bildfindung in konzentrierter Nahsicht der beiden Figuren und in fast vierfacher Größe unter der Titelvariation "Le Triomphe du Surréalisme" (114 x 146 cm) vollendet. "L'ange du foyer" zeigt vor einer steppenartigen Landschaft die Panoramaansicht eines gespenstisch menschengestaltigen Wesens mit klauenartigen Händen, das in Begleitung eines wesentlich kleineren, nacktgrün urvogelartigen Monsters einen orgiastischen Veitstanz vollführt. Die weit gespreizten Extremitäten des bekleideten und sogar beschuhten zentralen "Hausengels", dessen monströses Affengesicht seinen Partner aggressiv anzufeuern scheint, dominieren die diagonale Bewegungsrichtung mit einem Konglomerat aus gedeckten rotbraunolivgrünen Farbflächen, die sich farborganisch aus der horizontalen Bodenebene entwickeln. Diese Grundfarben erinnern stark an die eindringliche Farbgestaltung von Richard Oelzes "Erwartung", das ein Jahr zuvor ebenfalls in Paris entstanden war (s. ARTUS, Folge 1937_2). Vor der menschenleeren Landschaft verschmelzen die aus Naturformen und Zivilisationsrequisiten konstruierten, bizarr-skurrilen Fantasiefiguren zu einem alptraumhaften Bestiarium minutiös und voluminös ausgemalten Grauens. Es ist das Grauen vor dem Kannibalismus des Krieges, der zermalmt und vernichtet und in berstender Zerstörungswut dennoch die Ohnmacht des Surrealismus vor der Macht historischer Faktizität thematisiert.

Max Ernst (2.04.1891 Brühl – Paris 1.04.1976), der Kölner "Dadamax" aus der Zeit nach dem 1. Weltkrieg, läutet am Vorabend des 2. Weltkriegs das Finale des Surrealismus ein. Es ist nicht mehr die Zeit für formale oder thematische Experimente sondern der Moment der Rückbesinnung auf die konventionelle Ölmalerei vergangener Jahrhunderte, trotz der Ähnlichkeit zu frühchristlichen Teufelsdarstellungen nicht mehr Raum für Symbole oder Allegorese sondern nur noch die nackte Bühne für visionäre Malerei, die mit selbstironischer Titelei und spielerischer Leichtigkeit als politische Kunst Bedeutungstiefe weit über "engagierter" Malerei hinaus beansprucht. Der Vogel "Loplop" alias Hornebom, der Vogelobere, halb Vogel, halb Mensch, steht als "alter ego" des Künstlers für ursprüngliche, ungezügelte Natur, aber auch für dunkle, bedrohliche Mächte. 1937 atmet er Fäulnis und Verfall des Francofaschismus und reagiert unmittelbar auf die politischen Ereignisse, die er als Angriff auf die Grundlagen der Zivilisation erkennt. Gegen die aufziehende Barbarei schafft er komplexe, vieldeutige Werke, aus beklemmenden, erschütternden Vorahnungen entstehen monumentale Visionen finsterer Zeitläufe. Sie sind grandiose künstlerische Botschaften von magischer Kraft und poetischer Dichte, die 1937 mit den "Hausengeln" anheben und über den 2. Weltkrieg hinweg mehr als ein Jahrzehnt mit "Europa nach dem Regen" (1940-42), "Vox Angelica" (1943) und der visionären Skulptur "Capricorn" (1948) Kunst als geistiges Abenteuer gestalten, ganz im Sinn seines großen Vorbilds Caspar David Friedrich: "Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst sehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, dass es zurückwirke auf Andere, von außen nach innen."

Und genau darin besteht "Der Triumph des Surrealismus", dessen "Hausengel" als unausweichliche Ungeheuer in drastisch gesteigerter Perspektive die Bedrohung der europäischen Hochkultur verkünden. Die feingliedrigen Fabelwesen und akkurat geformten Monster erzeugen mit ihren Verzerrungen und der aufgehoben erscheinenden Schwerkraft beim Betrachter existentielle Schwindelgefühle und Traumata einer unglaublichen, trügerischen und grausamen Welt. Im Grauen vor der Geschichte besiegeln diese Werke das Ende aller Utopien. Was bleibt ist "L'ange du foyer", ein wütender Racheengel in der Vorhalle des Inferno.