Freitag, Oktober 12, 2007

1937_2: Böses Erwachen

Richard Oelze "Erwartung" 1935-36
Öl auf Leinwand, 81,6 x 100,6 cm
Museum of Modern Art New York
mit freundlicher Genehmigung der Kunsthalle Bielefeld

Sechs Frauen- und 14 Männer(hüte), ein Schock insgesamt, allesamt auf den ersten Blick gut situierte Bürger, starren angewurzelt mit dem Bildbetrachter auf ein Panorama des Schreckens, in dem Landschaft und Himmel unterschiedslos in einem schwarzbraunen Inferno verwirbeln. Es ist der Moment ihres bösen Erwachens. Mehr braun als schwarz malt Richard Oelze (1900 Magdeburg – Posteholz 1980) exakt den Moment der Stille, bevor ein vernichtender Sturm losbricht, der Menschen wie Natur gleichermaßen zerstören wird. Schwefelgelbes Höllenlicht beleuchtet von hinten die in Hut und Mantel uniformierten Menschen, die gleichgeschaltet in chaotischer Fixierung ihr Schicksal erwarten. Nur drei Personen auf der linken Seite der Gruppe wenden sich in drei verschiedenen klassischen Profilposen von der gesichtslosen Masse ab und dem Betrachter zu, ohne ihm jedoch ins Auge zu schauen - Antlitze von Jedermann (und -frau), deren Individualität der gleichschaltenden Macht ihres sich ankündigenden Schicksals gewichen ist. Das Unheilvolle hat in schwarzbraungelber Monochromie bereits einheitlich Mensch und Natur ergriffen, alle Zeichen stehen auf Sturm, und "Erwartung" hätte auch "Vorahnung" heißen können, "Wissen" um den unmittelbar bevorstehenden Verlust von Identität, Leib und Leben bis hin zu Schrecken und Grauen im 2. Weltkrieg, der die anbrechende Dekade abschließen wird. Der Maler teilt die Erfahrung von Entfremdung mit seinen Figuren, seitdem er am 31. März 1933 aus Dresden nach Paris emigriert war und dort mit Max Ernst, Salvador Dalí und André Breton Dada und den Surrealismus kennen gelernt hat. Sein Blick auf Realität und Zeitgeschichte ist an seinem Vorbild Otto Dix geschult, seine Bildwelt in ihrer Naturmetaphorik, die später das Unbekannte, Geheimnisvolle, Mystische mit dem Wirklichkeitsbezug seiner sachlichen Malerei verknüpft, seit 1921 in der privaten Malklasse von Paul Klee am Weimarer Bauhaus entstanden und wird nach 1945 nicht ohne Grund an einem Ort wie Worpswede fortgeführt.

In brauner Zeit schon wurde Oelzes zeichnerisches Talent und sein prophetischer Blick erkannt, sodass bereits 1940 "Erwartung" von Alfred H. Barr, dem Gründungsdirektor, für das Museum of Modern Art in New York angekauft wurde. Jetzt hängt es für einige Wochen in der Ausstellung "Perfektion und Zerstörung" in der Bielefelder Kunsthalle und vereint künstlerisch auf sich diese beiden für das Jahr 1937 charakteristischen Epitheta. Es ist das Jahr der Unkultur im 20. Jahrhundert, in dem der Nationalsozialismus in Deutschland seine faschistischen Perfektionsideale als Maßstab für die Zerstörung der Moderne am Beispiel der Kunst erprobt. Nationalsozialistische Kunst und Kultur gehorcht dem Diktat der Disziplin und des Heroismus in erstarrter Form: Soldatisches Pathos, eiserner Wille und stolzes Leid in möglichst stereotyper Wiederholung und pathetischem Handeln sind ihre Kennzeichen und Untugenden.

Seit der Eröffnung der ersten "Großen Deutschen Kunstausstellung" am 18. Juli 1937 im Münchener "Haus der Deutschen Kunst" werden ständig und in jährlicher Neuauflage vielhundertfach Exemplare dieser Kunstgattung in Malerei, Grafik und Plastik präsentiert. Zeitgleich werden Werke der deutschen Avantgarde aus deutschen Museen, Galerien und Privatsammlungen schon ab dem Frühjahr 1933 in sog. "Schreckenskammer"-Ausstellungen in Mannheim, München, Erlangen, Karlsruhe und Nürnberg gezeigt. Eine der ersten dieser Ausstellungen, die am 23. September 1933 in Dresden eröffnet wurde, trug bereits den Untertitel "Entartete Kunst". Am 19. Juli 1937, einen Tag nach Eröffnung der "Großen Deutschen Kunstausstellung" öffnete "Entartete Kunst" in den Münchner Hofgartenarkaden ihre Pforten: Am 1. September 1933 hatte Adolf Hitler in seiner Eröffnungsrede auf dem 5. Nürnberger Reichsparteitag gefordert, "dass unter keinen Umständen die Repräsentanten des Verfalls, der hinter uns liegt, plötzlich die Fahnenträger der Zukunft sein dürfen", jetzt, vier Jahre später, versichert Adolf Ziegler, Münchner Maler und Präsident der "Reichskammer der bildenden Künste", seinem Auditorium in den Hofgartenarkaden, dass nunmehr "alle die sich gegenseitig unterstützenden und damit haltenden Cliquen von Schwätzern, Dilettanten und Kunstbetrügern ausgehoben und beseitigt" würden.

Bis 1937 hat diese "kulturelle Säuberung" zum Zwecke der nationalsozialistischen "Wiedergeburt der Nation" das moderne kulturelle Leben Deutschlands zerstört. Kompromisslose Verfechter engagierter Kunst (Dix), Expressionisten der ersten Stunde (Heckel), betont "klassische" (Schmidt-Rottluff) und jüdische Künstler (Nussbaum, Freundlich, Meidner, Lea Grundig) werden pauschal der Denunziationsformel "jüdisch-bolschewistisch" unterzogen: Judentum, Sozialdemokratie, Sowjetkommunismus und moderne Kunst insgesamt werden mit dieser Negatividentifikation belegt. Am Anfang steht das Bauhaus in Dessau. Es wird bereits 1932 geschlossen. Max Beckmann wird im April 1933 als einer der ersten und berühmtesten, auch international renommierten Maler aus seinem Lehramt an der Frankfurter Städelschule entlassen, 1937 werden 101 deutsche Museen geplündert. Der "Säuberungskrieg" gegen alle unliebsamen Künstler ist in vollem Gange.

Die Bielefelder Kunsthalle selbst bietet ein denkwürdiges Entrée zum Thema der Ausstellung: Rodins "Denker" außen rechts vom Eingang kontrastiert Arno Brekers "Prometheus" links hinter der Kasse im inneren Foyer: Thomas Kelleins Verdikt des "Prometheus" als "die hohle, wenngleich brandgefährliche Nuss der Nazikunst" benennt, was den Besucher der Ausstellung erwartet, nämlich die existentiellen Zeugnisse der verfolgten Moderne vor 70 Jahren: Damals entstehen drastische Bilder des "Bösen Erwachens". Die Künstler stellen nicht nur die Angriffe und Ungewissheiten dar, denen sie selbst ausgesetzt sind. Sie zeigen in ihren Arbeiten, was sich seit den Dreißiger Jahren in Deutschland kulturell zusammengebraut hat und schildern prophetisch das Nahen einer weltweiten Katastrophe, in der Zweiter Weltkrieg und Holocaust vorprogrammiert sind. In den Arbeiten, die größtenteils unabhängig und ohne Wissen voneinander entstehen, erblickt man eine szenisch lesbare Gefahr, die lebensbedrohend auftritt. Diese Künstler haben von den Zielen der Nationalsozialisten und deren Konsequenzen gewusst. Sie waren, wie die Werke erkennen lassen, äußerst schockiert und haben sowohl den Krieg als auch die massenhaften Ermordungen von Zivilisten vorhergesehen. In ihren epochalen Werken geht es, wie auch in Richard Oelzes "Erwartung", um die Zerstörung von Kunst und Kultur und den unausweichlichen Gang aller in den Tod.