Samstag, März 24, 2007

Neue Welt 4: Niagara – Kunst und Wissenschaft

Frederick Edwin Church
Niagara Falls, 1856
30,4 x 44,8 cm, Bleistift und Öl auf Leinwand
Wadsworth Atheneum, Hartford Mass.
mit freundlicher Genehmigung des Bucerius Kunst Forum Hamburg

Die hufeisenförmig hinabstürzenden "donnernden Wasser" bilden die größten Wasserfälle Nordamerikas. Dies bezieht sich nicht auf die Höhe der Kaskaden, denn das sind nur 50 Meter, sondern auf die Tatsache, dass diese Naturgewalt seit mindestens 12.000 Jahren pro Sekunde zwei Millionen Liter Wasser dem indianischen Donnergott opfert. Die Niagarafälle versinnbildlichen eine unkontrollierbare, mystische Natur, die von den Malern der Hudson River School zum Symbol für die Kraft und Energie der Neuen Welt stilisiert wurde. Frederick Edwin Church (1826-1900) stellt das Schauspiel in seinem 1856 entstandenen Gemälde aus der traditionellen Perspektive der Betrachter unterhalb der Fälle dar. In diesem Jahr hatte er den Ort bereits drei Mal besucht und zu allen Jahreszeiten den vielgestaltigen Regenbogen, das Tor zwischen Leben und Tod in der Glaubenswelt der amerikanischen Ureinwohner, in zahlreichen Ölstudien und Zeichnungen vor Ort skizziert. Unter dem Regenbogen gehen Himmel und Wasser als bildbeherrschende Elemente eine Verbindung ein, die von den Veränderungen des Lichts bestimmt wird. Beide trennt in der oberen Bildhorizontalen ein schmaler Streifen unberührter Natur, hinter der am gegenüber liegenden Ufer die fernen drei kleinen Häuser, erste Anzeichen noch zaghafter Zivilisation, fast vollständig verschwinden. Noch ist niemand zu sehen von den Tausenden Touristen, die nach der Eröffnung des Eriekanals 1825 in stetig steigender Zahl aus den südlichen Ballungsräumen dem einmaligen Naturschauspiel in beinahe religiöser Ereiferung zuströmen. Aus den Siedlern der Landnahme sind jetzt urbane Pilger geworden, die das inzwischen komfortablere Reisen zu schätzen gelernt haben, das Voraussetzung für Massentourismus ist. Niagara Falls aber ist noch eine einzige Hymne auf die ungezügelte Kraft, die Größe und Erhabenheit des stürzenden Wassers, dem der Maler als zentralem Bildthema seine ganze Aufmerksamkeit schenkt.

Ein Jahr später wird Church mit seinem letzten Niagara-Gemälde von stattlichen Ausmaßen (108 x 230 cm) seinen internationalen Ruhm begründen und selbst bei Turner und John Ruskin im fernen England Anerkennung finden: Diesmal gestaltet er das Hufeisen der Fälle vom westlichen Rand aus in erhöhter Perspektive und lässt den Betrachter vogelgleich und in perfektem Illusionismus über dem Abgrund der Fälle schweben. Innovative Bildfindung und technische Brillanz dieser Arbeit spiegeln auch die imperialen Ambitionen eines aufstrebenden, selbstständigen und selbstbewussten Amerika und können mit Fug und Recht als patriotisches Manifest interpretiert werden. Generalbass dieser nationalen Untertöne ist jedoch nicht länger die Beherrschung der amerikanischen Wildnis, wie sie Thomas Cole und die 1. Malergeneration der Hudson River School zelebriert hatte, sondern das Selbstbewusstsein, in der Kunst international auf Augenhöhe mit den aktuellen Wissenschaften im Hinblick auf die Darstellung und Interpretation der Natur zu sein. Landschaftsmalerei wird im Austausch zwischen den angesehensten Vertretern beider Fachrichtungen Kompendium der Naturwissenschaften: Die Niagarafälle sind die am häufigsten gemalten amerikanischen Naturwunder in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, weit vor Grand Canyon und Yosemite, die Geologie deren wichtigste Wissenschaft.

Frederick Edwin Church kam in Hartford, jenem Ort, dessen zentrales Museum heute seine Arbeiten dank des weitsichtigen Mäzenatentums von Daniel Wadsworth und Elizabeth Hart Jarvis Colt bewahrt, als Sohn eines erfolgreichen Geschäftsmanns zur Welt. Durch Vermittlung jenes Wadsworth, einem Nachbarn der Eltern, wurde Church 1844 für zwei Jahre Schüler von Thomas Cole und durch ihn und ihre gemeinsame Liebe zur Landschaft zum herausragenden Vertreter der 2. Malergeneration der Hudson River School - aber später auch Berater jener Elizabeth Hart Jarvis, die als Mrs. Samuel Colt (und Erbin des ersten amerikanischen Rüstungsimperiums des 19. Jahrhunderts) zur eifrigsten und kapitalkräftigsten Kunstsammlerin Hartfords wurde und mit seiner Unterstützung eine der angesehensten privaten Gemäldegalerien Amerikas stiftete. Dieser Schulterschluss von Kunst und Kommerz ist schon früh vorbildhaft für Amerika und zeichnet den Unternehmergeist des Malers Church aus, der instinktsicher die Zeichen des Fortschritts erkennt und die Bedeutung der Naturwissenschaften auch für die Wertschätzung und Qualität moderner Kunst.

In diesem Geist macht er Bekanntschaft mit einem der einflussreichsten Wissenschaftler seiner Zeit, Alexander von Humboldt. Angeregt durch dessen Werk Kosmos reiste er auf Humboldts Spuren ab 1853 als erster amerikanischer Maler mehrfach nach Südamerika und fertigte, dessen ausdrücklichen Rat folgend, Ölskizzen von Landschaften sowie geologischen und botanischen Details vor Ort an, die er dann zuhause zu monumentalen Atelierbildern von bis zu sechs Quadratmetern zusammenfügte. Diese Kompositlandschaften sind wissenschaftlich exakte, aber versatzstückhaft komponierte Darstellungen der Natur und stets auf dramatische Wirkung bedacht. Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander von Humboldt (1769-1859) hatte zwischen 1799 und 1804 drei amerikanische Forschungsreisen unternommen und nach Südamerika, Kuba und Mexiko zum Abschluss seiner großen Amerika-Expeditionen auch die Vereinigten Staaten besucht. Dort war er u.a. drei Wochen Gast des amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson in Washington und Philadelphia. Als Forscher und Wissenschaftler genossen seine Erkenntnisse bereits höchstes Ansehen, die er später in seiner fünfbändigen persönlichen und wissenschaftlichen Lebenssumme Kosmos (1845-62) zusammenfasste.

Dieses sofort populäre, weit verbreitete Werk hatte entscheidenden Einfluss auf Frederick Church. Von Humboldt übernahm er in seiner Malerei das Bestreben um wissenschaftlich beschreibbare, vor allem botanisch und geologisch korrekte Darstellungen von Landschaft und Natur, von räumlich weit entfernten und persönlich nicht bekannten Malerkollegen, Caspar David Friedrich (1774-1840) und der Dresdner Schule des frühen 19. Jahrhunderts, die Verknüpfung spiritueller Inhalte mit der romantischen Landschaftsmalerei, die Friedrich mit seinem Tetschener Altar 1807/08 begründet hatte. Der Humboldtsche Forschergeist des amerikanischen Malers Church und seine an spezifisch deutscher Romantik geschulte pantheistische Naturauffassung überwinden die an historisierenden Landschaften interessierten neuenglischen Konventionen auch eines Thomas Cole. Die Niagara-Gemälde von Frederick Church sind der Beginn seiner malenden Verknüpfung von Kunst und Wissenschaft, die mit seinen großartigen Ansichten der Anden, Ekuadors und von Jamaika später ihre künstlerische Vollendung findet, bevor der amerikanische Bürgerkrieg den Blick nach 1865 auch hier in andere Richtungen lenkt.