Montag, Januar 23, 2006

Preisgekrönt: The Harmony Silk Factory


Den erstvergebenen englischsprachigen Literaturpreis im Neuen Jahr erhält Tash Aw für seinen Erstlingsroman The Harmony Silk Factory (Fourth Estate). Bereits am 4. Januar wurden die Gewinner der Whitbread Book Award 2005 verkündet. Der Preis wird seit 1971 von der Unternehmensgruppe Whitbread PLC vergeben. Ich stelle Ihnen morgen den jungen Autor vor und heute meine Übersetzung des Romananfangs zur Diskussion.
Morgen, am 24. Januar 2006, wird in London der Gesamtsieger aus allen fünf Whitbread-Kategorien verkündet (mehr darüber hier am 25. Januar), bereits sechs Wochen später, am 17.03.2005, erscheint die deutsche Übersetzung bei Rowohlt.


Tash Aws Romandebut The Harmony Silk Factory bei Fourth Estate aus dem Jahr 2005 begibt sich im Szenarium des 2. Weltkriegs und der japanischen Invasion auf die Spur von drei Männern und einer Frau in den Dickicht des malaiischen Dschungels, der, ganz in der Nachfolge Faulkners, Conrads, Flauberts und Nabokovs, auch Spiegel der persönlichen und gesellschaftlichen Seelen-Landschaften der Protagonisten ist: Johnny Lim ist zu Beginn des Romans, der von seinem Sohn Jasper erzählt wird, bereits tot. Er hat während des Krieges einen britischen Minenbesitzer getötet, ist geflüchtet und schnell zum unumstrittenen Antihelden des gesichtslosen Kintatals geworden. Er schreckt auch weiterhin nicht vor Mord, Totschlag und Verrat zurück, solange es seinen geschäftlichen Interessen dient. Berichtet wird dies aber nicht nur – wie in der im Folgenden übersetzten Einleitung - von seinem despektierlich-kritischen Sohn, sondern im zweiten Teil mit Hilfe des Tagebuchs seiner verstorbenen Frau Snow Soong, die ihre Hochzeitsreise in den Urwald in Begleitung des Minenbesitzers Honey, des schleimigen Ästheten Wormwood und des japanischen Psychopathen Kunichika darin festgehalten hat. Im letzten Drittel des Buches gesellen sich zu diesen beiden Stimmen die Erinnerungen des gealterten Peter Wormwood, der zur Rehabilitation seines homoerotischen Freundes Johnny auf seinem Alterssitz ein Paradiesgärtlein anlegen will ...
Für europäische Leser, die unvorbereitet und ohne persönliche Beziehung mit asiatischer Gedanken- und Gefühlswelt in der Regel größere Verstehensprobleme haben, sind Beurteilung der Charaktere und Nachvollzug ihrer Handlungen und deren Motivation auch in diesem fiktionalen Rahmen nicht leicht. Für eine multikulturelle Kunst und Kultur wie der englischsprachigen bietet sich aber im Versuch der einfühlsamen Rezeption ihrer literarischen Sprach-Kulturen ein Verständnispotential, das im Original wie in der Übersetzung Maßstäbe für globale Verständigung setzt: Leicht ist das nicht – für beide Seiten ...
Die deutsche Übersetzung von Pociao und Roberto de Hollanda erscheint am 17.03.2006 unter dem Titel Die Seidenmanufaktur „Zur schönen Harmonie“ bei Rowohlt (ISBN 3-498-00071-3, 22,90 €).

Zum Original:


http://books.guardian.co.uk/bookerprize2005/
story/0,16347,1551614,00.html


Meine Übersetzung:


Teil 1: Johnny
Einleitung

Seidenmanufaktur Harmonie ist der Name der Fabrikhalle, die mein Vater 1942 als Fassade für seine unerlaubten Geschäfte kaufte. Von außen erscheint das Gebäude unauffällig. Erbaut in den frühen Dreißigern von chinesischen Wanderarbeitern (jenen Kulis, von denen ich sehr wahrscheinlich abstamme), ist es das größte Bauwerk an der Hauptstraße, die sich durch die gesamte Stadt zieht. Hinter seiner schlichten, weiß getünchten Fassade befindet sich ein riesiger grottendüsterer Raum, der ursprünglich bestimmt war, leichtes Gerät und ein paar namenlose Fronarbeiter zu beherbergen. Die Wandschränke aus Teakholz, die mein Vater zu der Zeit einbauen ließ, als er die Fabrik erwarb, umrahmen immer noch den Raum. Sie waren dazu bestimmt, Stoffballen aufzunehmen und auszustellen, aber wenn ich mich recht erinnere, wurde sie dafür nie benutzt, sondern statt dessen angefüllt mit Schachtel voller Damenunterwäsche aus England, die mein Vater mit Hilfe seiner Beziehungen im Hafen gestohlen hatte. Viel später, als er schon sehr berühmt und sehr reich war – der Patriarch des gesamten Tals – beherbergten die Wandschränke seine Sammlung historischer Waffen. Das Herzstück dieser Ausstellung war ein riesiger Kris, dessen besonders gewellte Klinge auf seine Herkunft schließen ließ: Meinem Vater zufolge gehörte er Hang Jebat, jenem legendären Krieger, der im 16. Jahrhundert, wie wir alle wissen, gegen die portugiesischen Eroberer kämpfte. Immer wenn Vater diese Geschichte erzählte, lag in seiner sonst eher ausdruckslosen Stimme regelmäßig eine raue, beinahe theatralische Ernsthaftigkeit, die seine Besucher durch ihre Ähnlichkeit mit Jebat beeindruckte – zwei große Männer im Kampf gegen fremde Unterdrücker. Er besaß auch die bei den Gurkhas üblichen Kukris, die mit ihren krummen Klingen für schnelle Entleibung sorgen, ferner japanische Samuraischwerter und juwelenbesetzte Dolche aus Rajasthan. Alle seine Gäste bewunderten sie.
Fast vierzig Jahre lang war die Seidenmanufaktur Harmonie das bedeutendste Unternehmen im Lande, aber jetzt steht sie leer und still und verstaubt. Der Tod löscht alle Spuren, alle Erinnerungen an Lebewesen, die einmal existierten, vollständig und für immer. Das sagte Vater einmal zu mir. Ich glaube, es war das einzige Mal, das er die Wahrheit sagte.

Wir wohnten in einem Haus, das von der Fabrik durch einen kleinen moosbewachsenen Innenhof getrennt war, in den nie ein Sonnenstrahl fiel. Mit der Zeit, als mein Vater immer mehr Besucher empfing, wurde auch das Haus als Seidenmanufaktur Harmonie bekannt, teilweise der Einfachheit halber, weil alle, die in das Haus kamen auch wegen ihrer Geschäfte kamen, teilweise weil die vielfältigen Interessen meines Vaters sich auf Bereiche von Freizeit und Unterhaltung der besonderen Art ausgedehnt hatten. Deshalb war es für Besucher einfacher zu sagen „Ich habe in der Seidenmanufaktur Harmonie zu tun“ oder schlicht „Ich gehe mal in die Seidenmanufaktur Harmonie“.

Unser Haus konnte nicht von jedem aufgesucht werden. Zutritt war nur auf persönliche Einladung gestattet, und nur wenige Auserwählte kamen herein. Um eingeladen zu werden, musste man wie mein Vater sein, mit anderen Worten, ein Lügner, Betrüger, Verräter und Schürzenjäger. Und das auf höchstem Niveau.

Von meinem Fenster im Obergeschoss sah ich, wie sich alles entwickelte. Ohne dass Vater mir je etwas sagen musste, wusste ich, mehr oder weniger, was er vorhatte und mit wem er zusammen war. Hauptsächlich schmuggelte er Opium und Heroin und Hennessy X.O. Das alles verkaufte er auf dem Schwarzmarkt von KL für ein Vielfaches von dem, was er den Thaisoldaten auf der anderen Seite der Grenze dafür bezahlt hatte, die er auch mit amerikanischen Zigaretten und minderwertigen Edelsteinen bestach. Einmal kam ein thailändischer General zu uns. Er hatte ein billiges graues Hemd an und seine Zähne waren aus Gold, massivem echten Gold. Er sah nicht wie ein Soldat aus und fuhr einen Mercedes-Benz mit einer Frau auf dem Rücksitz. Sie hatte hellen Teint, fast schneeweiß wie die Salzfelder an der Küste. Sie rauchte eine Nelkenzigarette und hatte eine weiße Chrysantheme im Haar.

Vater schickte mich nach oben. Er sagte: „Mein Freund der General ist gekommen.“
Sie schlossen sich in Vaters Hinterzimmer ein, und obwohl ich den Linoleumbelag hochhob und mein Ohr an die Dielen presste, konnte ich nichts hören außer dem leisen Klirren von Gläsern und dem schwachen, gedämpften Grummeln, das entstand, wie ich inzwischen wusste, wenn ungeschliffene Diamanten auf dem grün bespannten Tisch ausgeschüttet wurden.
Ich winkte der Frau im Auto zu. Sie war jung und schön, und als sie lächelte, sah ich, dass ihre Zähne klein und braun waren. Sie lächelte mir immer noch zu, als das Auto schon fortfuhr, wobei es eine Staubwolke aufwirbelte und Fahrräder anhupte, als es auf der Hauptstraße beschleunigte. Damals sah man in dieser Gegend selten teure Autos und mondäne Frauen, aber wenn, dann in der Nähe unseres Hauses. Keiner von unseren Besuchern hat mich je bemerkt, keiner außer jener Frau mit ihrem hellen Teint und ihren schlechten Zähnen.

Vater erzählte ich von dieser Frau und wie sie mich angelächelt hatte. Seine Reaktion war wie erwartet. Er langte langsam nach meinem Ohr und drehte es kräftig, bis alles Blut daraus entwich. „Erzähl keine Geschichten“, sagte er und dann gab er mir zwei Ohrfeigen.
Ich hatte mich schon an diese Art von Strafe gewöhnt, ehrlich.

Auch wenn ich noch jung war, wusste ich genau, was mein Vater tat. Ich war nicht gerade stolz darauf, aber mich kümmerte es auch nicht. Heute würde ich alles dafür geben, wenn ich bloß der Sohn eines gewöhnlichen Lügners und Betrügers wäre, denn das war, wie ich schon gesagt habe, längst nicht alles. Von allen schlechten Dingen, die er je getan hat, ereigneten sich die schlimmsten lange vor den großen Autos, den schönen Frauen und der Seidenmanufaktur Harmonie.

Jetzt ist es an der Zeit, seine Geschichte zu erzählen. Endlich habe ich meine durch Verbrechen finanzierte Erziehung gut genutzt, um jeden einzelnen Artikel in allen Büchern, Zeitungen und Journalen zu lesen, der über meinen Vater berichtet, um die wahre Geschichte, was geschehen ist, zu begreifen. Mehr als nur ein paar Jahre meines nutzlosen Lebens habe ich für dieses Vorhaben aufgewandt und in Bibliotheken und sogar Regierungsbüros zugebracht. Mein Ehrgeiz war erstaunlich. Ich gebe gern zu, dass ich nie ein Forschertyp war, aber die letzte Zeit hat bewiesen, dass ich zu vernünftigem, logischem Vorgehen fähig bin, trotz der Ansicht meines Vaters, ich würde immer ein Träumer und Taugenichts bleiben.