Montag, Januar 30, 2006

Patrick O’Keeffe

ist 42 Jahre alt und der 2. Preisträger des Story Prize for short fiction, der ihm am 25. Januar 2006 in New York City für sein Buchdebut The Hill Road verliehen wurde (siehe ARTUS 29.01.2006).
O’Keeffe wurde als fünftes von 10 Kindern in Kilteely Co. Limerick geboren, das als Kilroan Eingang in sein Buch fand. Nachdem er schon 1986 illegal in die USA eingewandert war, kehrte er 3 Jahre später mit einem sog. Donnelly Visum, das er in einer Greencard-Lotterie gewonnen hatte, aus Irland zurück und studierte ab 1990 „Englisch“ an der Universität von Kentucky. Sein Studium schloss er 2000 mit einem Master of Fine Arts in Creative Writing der Universität Michigan in Ann Arbor ab, wo er auch heute noch lebt und dort und am Sweetland Writing Center als Lehrbeauftragter für „Englisch“ tätig ist.

The Hill Road erschien Mitte letzten Jahres bei Bloomsbury in London und Viking in New York. Der Ich-Erzähler Jack Carmody berichtet in 4 längeren Erzählungen über Generationen hinweg aus dem ländlichen Südwesten Irlands, der Heimat des Autors, und erzählt von unerfüllter Liebe, dramatischer Leidenschaft, verpassten Chancen und geheimnisvollem Mystizismus. In der Titelgeschichte „The Hill Road“ erinnert sich der junge Mann an seine eigentümlichen Tante und deren unerfüllte Liebe zu einem Soldaten, den der 1. Weltkrieg tragisch veränderte. In „Her Black Mantilla“ verliebt sich ein zurückgezogen lebender Bauer in die jüngere Schwester seiner früheren Geliebten, die er grausam verlassen hat. Eine Zufallsbekanntschaft im Zug zwischen Limerick und Dublin konfrontiert die Witwe des Postmeisters in der Lieblingsgeschichte des Autors, „The Postman’s Cottage“, mit ihrer verdrängten Vergangenheit. „That’s Our Name“ schließlich schildert die schicksalhaften Folgen des Besuchs einer jungen Irisch-Amerikanerin bei ihren Verwandten in der ‚alten Heimat’ – alles Geschichten, die an die irische Sprach- und Bildwelt von O’Casey, Synge und Yeats anknüpfen, die O’Keeffe als Heranwachsender verschlungen hat, aber auch an die lyrische Eloquenz von Edna O'Brien, John McGahern und William Trevor, die den zeitgenössischen Bogen zu der großen kanadischen Geschichtenerzählerin Alice Munro schlagen. Vergleiche mit James Joyce, wie sie euphorisch der Baltimore Sun angestellt hat, scheinen jedoch verfrüht, auch wenn es dem Autor, wie dem Schöpfer von Stephen Daedalus und Molly Bloom, gelingt, aus pastoraler Naturbeschreibung die zeitlos dramatischen Themen von Verbrechen, Leidenschaft, Schuld und Sühne zu entwickeln. Hier wie dort sorgen Religion, Armut und Nationalismus für die starken Kontraste in der Welt- und Selbstsicht der Charaktere, für die Landschaft und Geschichte Irlands unberechenbare Parameter für Naturliebe, Familiensinn und Individualität sind: die Grüne Insel als Ort, wo Geschichten das Leben verändern.
The Hill Road ist ein Buch, das so als terrible beauty seine Leser(innen) in ein Wechselbad von Gefühlen taucht, nicht nur thematisch, weil Grausamkeit und Brutalität ebenso wie Mitleid und Feigheit ihre Darstellung finden, sondern viel subtiler, genuin literarisch, weil der Autor sicher mit dem rhetorischen Repertoire der mündlichen Tradition seiner gälischen Heimat umgeht, mit Dialog und Dialekt, der ihm zu Beginn in seiner neuen US-amerikanischen Heimat oft als „Disgrace“ in geradezu Dubliner Dimensionen erschienen ist – gut so für den Schriftsteller Patrick O’Keeffe.

Für Recherchearbeit in Irland und den USA Dank an meinen Kollegen und Freund Frederick Lamb.

Sonntag, Januar 29, 2006

Preisgekrönt: The Hill Road

The Story Prize for short fiction 2005
wurde am 25. Januar zum 2. Mal vergeben. Das ansehnliche Preisgeld von 20.000 US $ - mehr als PEN, Pulitzer oder National Book Award für Literatur zu bieten haben - erhielt der gebürtige Ire Patrick O’Keeffe für seine erste Buchveröffentlichung, The Hill Road, einer Sammlung von 4 aufeinander bezogenen Geschichten, die in dem fiktiven irischen Bauerndorf Kilroan spielen.

Nach er letztjährig 1. Preisträgerin, Edwidge Danticat, wählten die Sponsoren Julie Lindsey und Larry Dark, der bis 2002 den O. Henry Preis verliehen hat, für 2005 aus 82 Büchern, die von 44 Verlegern vorgeschlagen worden waren, drei Einsendungen aus, die dann von 3 Fachjuroren, der Schriftstellerin Andrea Barrett, der Bibliothekarin Nancy Pearl und dem Herausgeber des New Republic, James Wood, bewertet wurden. Weitere Informationen unter
http://www.thestoryprize.org/

Das Original finden Sie hier:


http://www.amazon.com/gp/product/0670033987/104-6746034-1536706?v=glance&n=283155
zusätzlich den Anfang der 2. Geschichte hier:
http://www.bloomsbury.com/Authors/microsite.asp?
id=855&section=1&aid=1328&mscssid
=%0bWCUS5KDSLPE08PQDJE1QREEWBH9B843C


Meine Übersetzung:

Hill Road


Die Schmiede von James Nash, dem heiligen Nash, wie mein Vater, seine Freunde und meine Tante Mary ihn nannten, lag am Rand des Dorfes Kilroan, an der Gabelung von drei Straßen, von wo man direkt auf die Hill Road kommt; sie war nur ein kleiner Schuppen, ein paar Meter neben der Landstraße, mit einem rostzerfressenen Zinkdach unter einer alten, dicht belaubten Platane. Unter den Platanen standen vier herrenlose Milchkannen, auf denen der Rost Flecken wie brodelnde Regenwolken geschaffen hatte, während Gras und Unkraut um sie herum einen regelrechten Dschungel bildeten; gewöhnlich brach ich mir einen Zweig aus einer der Platanen, schlug Gras und Unkraut zur Seite und wartete geduldig, bis die Bienen fort geflogen waren und sich der aufgewirbelte Staub gelegt hatte, ehe ich hineinkroch, um kniend die glänzenden Muster ehrfurchtsvoll zu betrachten.

Auf dem Hof der Schmiede selbst lagen haufenweise verschlissene Hufeisen, und an ihrer Mauer lehnten große schwere Eisenreifen, die einmal um die hölzernen Wagenräder zweirädriger Kutschen und normaler Pferdewagen gepasst hatten, und an die jetzt die Männer ihre Pferde anbanden.

In der Mitte des Hofes, genau vor der Tür zur Schmiede, stand der Amboss von Mick Nash, den sein Sohn James nie benutzte, und an den Sonntagnachmittagen im Vorfrühling und Spätherbst rauchten um ihn herum Rome Kelly, John Hogan, mein Vater und noch ein paar andere Bauern ihre Pfeife oder Zigarette, unterhielten sich, lachten und drängelten so lange bis jeder zumindest einen Fuß auf ihn setzen konnte. Im Innern der Schmiede hatte James Nash seinen eigenen Amboss in Betrieb: Mit ohrenbetäubendem Krach, Hämmern und Zischen ging es an ein Hufeisen, denn zum Beschlagen eines Pferdes waren die Männer meistens gekommen, obwohl sie auch ein Fass zum Bereifen hätten dabei haben können, einen Pflug, der geschliffen werden musste oder auch nur alte Töpfe oder Bratpfannen mit einem Loch oder einem abgebrochenen Henkel, die der Schmied auf seine grobe Art ausbessern konnte, damit sie noch ein paar Monate länger hielten. Diese Zeit ging ihrem Ende entgegen. In den nächsten ein oder zwei Jahren würden sich die meisten Bauern Traktoren kaufen und sie über Nacht wieder instand setzen, als hätten sie es immer schon so gemacht; danach kamen die Pferde an die Reihe, und alle Dinge, die diese Pferde hinter sich her gezogen hatten, waren nutzlos, und doch blieb der Schmied im Geschäft: Er lernte, neue Gerätschaften zu reparieren und auszubessern, z.B. Transportkisten, Hechtreusen, Güllestreuer, Silageschneider und Anhänger.

James Nash behauptete, der letzte gewesen zu sein, der Albert Cagney gesehen hatte, in einer Sommernacht des Jahres 1917 oder 1918; er war auch der einzige in Kilroan, der in der selben Nacht gesehen hatte, was er „ein Leuchten von dem Wesen über ihm“ nannte. Ich hörte, wie er es an einem Sonntagabend erzählte, im Herbst, als er wie gewöhnlich aus seiner Schmiede kam, um frische Luft zu schnappen und eine zu rauchen. Er trug immer eine schwarze Klappe über dem linken Auge, seit seiner Jugend, wie ich die Männer erzählen hörte, als ein glühend heißes Hufeisen, das er gerade schmiedete, vom Amboss sprang und dort landete – an jenem Abend war ich unter den Bäumen hervorgekommen, und ich stand mit meinem Bruder und meinen Schwestern im Hof der Schmiede; unser Vater ließ gerade das Pony beschlagen. Der Schmied sagte, dass das erste, an was er sich aus dieser Nacht erinnerte, die Knöpfe an Alberts britischer Militäruniform seien, die im Mondlicht glänzten, und weshalb er wusste, dass es Albert war, der auf der Weg vom Dorf zur Straßengabelung ging. Der Soldat hielt an; der Schmied und er plauderten fünf Minuten oder so miteinander, und ungefähr zehn Minuten nachdem Albert James Nash eine gute Nacht gewünscht hatte, und Albert auf der Hill Road nachhause zurück unterwegs war, erstrahlte das Schlafzimmer des Schmieds hinter der Schmiede von einem übernatürlich hellen Licht, und er fiel aus dem Bett, rannte splitternackt zur Straßengabelung und sah am Himmel über der Hill Road eine zwar nur kleine Flamme in Form eines riesigen Zackens, aber mit genügend Kraft, um die dunklen Felder ringsherum meilenweit zu erleuchten; das Licht und die Hitze waren in der Tat so groß, dass der Schmied sagte, er habe in der Ferne bis auf die Kuppe von Conways Berg sehen können, wo die Felsen wie brennender Torf glühten; dann verschwand das Licht – erloschen so schnell wie eine ausgeblasene Kerze, sagte der Schmied, und er selbst warf sich platt auf die Straße, die unter der Hitze zischte, und bat Gott um Vergebung für all seine Sünden, die Sünden seiner Vorfahren, die Sünden von jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind aus Kilroan, lebend oder tot; und er betete für den Seelenfrieden von Albert Cagney, von dem er fälschlicherweise annahm, dass er entweder mit Leib und Seele in den Himmel aufgefahren oder in einen rauchenden Haufen Asche verwandelt worden sei.

- Eines nur ist klar, das sage ich euch, dass der nicht wie ihr aus Fleisch und Blut war, der dort überlebt hat, sagte der Schmied, der sich von den Männern abwandte und das Band seiner Augenklappe festzurrte, und schlenderte dann in die Ecke des Hofes, wo er auf Grass und Unkraut unter den Platanen pinkelte. Die Männer um den Amboss herum bewegten sich nicht und sprachen kein Wort, sondern starrten auf den Boden zu ihren Füßen. – Und kein Wort davon ist gelogen, Jungs, glaubt mir, sagte der Schmied, als er zurück kam und den Gürtel unter seiner Lederschürze festband. – Aber Jungs, es gibt was zu tun, sagte er, und ich muss weitermachen; und ich verspürte ein Frösteln, als ich ihn in die Schmiede zurückgehen sah, die Ärmel hochgekrempelt bis zu seinen kräftigen Schultern, seine Schirmmütze nach hinten gedreht, wie es viele Bauern bei der Arbeit machen, und das prächtige Licht des Herbst erfüllte den Hof, der bald mit den vergilbenden Blättern der Platanen bedeckt sein würde, die jetzt ohne Unterlass fielen, bildete eine scharfe Linie zur Finsternis, in die der Schmied hinüberwechselte bei der Tür zur Schmiede, wo das Feuer vor ihm aufleuchtete; und nach einigen Sekunden, als der Schmied schon wieder hämmerte, erhoben John Hogan, mein Vater, Rome Kelly und die anderen Männer die Köpfe, lächelten und zwinkerten einander zu. Natürlich hatten sie der Geschichte des Schmieds im Laufe der Jahre schon viele Male zuhören müssen, sodass die Geschichte an dem Abend für sie in keiner Weise neu war.

Mittwoch, Januar 25, 2006

Whitbread Book of the Year 2005

15 Jahre hat sie daran geschrieben - aber es hat sich gelohnt: Gestern wurde Hilary Spurling für den 2. Teil ihrer Biografie "Meister Matisse" (Matisse the Master, Hamish Hamilton) mit dem Gesamtsieg im Whitbread Book of the Year Award 2005 ausgezeichnet. Die Einzelsiegerin in der Sparte "Biografie" verwies damit die Sieger in den Romankategorien, Ali Smith mit The Accidental für den besten Roman des Jahres und Tash Aws The Harmony Silk Factory als besten Erstlingsroman 2005 (siehe ARTUS 23.01.2006), punktgleich auf Platz 4.
Die Whitbread Book Awards zeichnen seit 1971 zu Anfang eines jeden Jahres Bücher von Autor(inn)en aus GB und IRL in den Kategorien First Novel, Novel, Biography, Poetry und Children’s Book aus, die dort bis Oktober des Vorjahres zuerst veröffentlicht wurden.
Whitbread PLC, gegründet 1742 von Samuel Whitbread als erste industrielle Bierbrauerei im georgeanischen London, ist seit 2001 mit 40.000 Mitarbeiter(inne)n und monatlich 10 Mill. Kund(inn)en in seinen Hotels, Restaurants und Fitnessclubs das führende Unternehmen der Freizeitbranche in Großbritannien.
Ausgewählt werden Bücher well-written, enjoyable and strongly recommended for anyone to read. (Lese-)Vergnügen, enjoyment, ist also das entscheidende Bindeglied zwischen Preisvergabe und Firmenphilosophie: „Celebrating the most enjoyable contemporary British writing“. Jeweils ein Autor, Buchhändler und Literaturkritiker stellen getrennt für jede Sparte eine Shortlist von vier Titeln zusammen, aus denen nacheinander die Preisträger in den einzelnen Kategorien und der Gesamtsieger des Jahres bestimmt werden. Das Preisgeld beträgt 5.000 £ je Sparte und noch einmal 25.000 £ für den Gesamtsieger, insgesamt also 50.000 £ jährlich. Die Auswirkungen auf den Buchverkauf international summieren diese Preisgelder beträchtlich. Der Vorjahrssieger, Andrea Levys Migrationsroman Small Island, erzielte bislang allein in der englischsprachigen Taschenbuchausgabe eine Verkaufsauflage von 600.000 Exemplaren - rosige Aussichten auch für Hilary Spurling: Congratulations from Germany.

Dienstag, Januar 24, 2006

Tash Aw, chin. Aw Ta-Shii

ist Preisträger des Whitbread First Novel Award 2005.
Er ist 33 Jahre alt, geb. in Taipeh, aufgewachsen in Kuala Lumpur, Zuwanderung nach London, Jurastudium in Cambridge (wo er auch The Harmony Silk Factory begann), M.A. in Creative Writing an der Universität von East Anglia in Norwich, einer der Kaderschmieden der jungen britischen Literatur, aus der u.a. auch Susan Fletcher stammt, die 2004, also ein Jahr vor Aw, für Eve Green den gleichen Preis erhielt. Das Urteil der Preisrichter über Tash Aws Romandebut The Harmony Silk Factory (Fourth Estate): „... with writing of immense confidence and grace, Aw effortlessly draws the reader into a fascinating world evoked brillantly by a gripping story ...”.
Wie wichtig gerade für Erstlingswerke die angesehenen britischen Literaturpreise sind, egal ob es sich um Whitbread oder Orange handelt, zeigt die auch kommerzielle Erfolgsgeschichte von Andrea Levys Migrationsroman Small Island, mit dem sie 2004 gleich drei Preisgelder aus beiden Renommierfonds gewann und nicht zuletzt deshalb – nach den obligatorischen Harry Potters und dem unvermeidlichen Da Vinci Code aus dem Stand auf Platz 15 der Guardian-Bestsellerliste 2005 landete.
Aw hat die Rechte für seinen Roman schon an ein gutes Dutzend Verlagshäuser verkauft und arbeitet folgerichtig an seinem 2. Roman, in dem es um das Ende der Kolonialherrschaft und die Anfänge der Unabhängigkeit in Malaysia und Indonesien in den 1960ern geht. Weitere interessante Details, insbes. auch über das Funktionieren des internationalen Verlagswesens, finden Sie hier:
http://www.theedgedaily.com/cms/content.jsp?id=com.tms.cms.article.Article_3c8c5f9d-cb73c03a-6279d000-4b697de3 und
http://allmalaysia.info/news/story.asp?file=/2005/6/12/people/11177729&sec=mi_people
(Januar 2006)

Montag, Januar 23, 2006

Preisgekrönt: The Harmony Silk Factory


Den erstvergebenen englischsprachigen Literaturpreis im Neuen Jahr erhält Tash Aw für seinen Erstlingsroman The Harmony Silk Factory (Fourth Estate). Bereits am 4. Januar wurden die Gewinner der Whitbread Book Award 2005 verkündet. Der Preis wird seit 1971 von der Unternehmensgruppe Whitbread PLC vergeben. Ich stelle Ihnen morgen den jungen Autor vor und heute meine Übersetzung des Romananfangs zur Diskussion.
Morgen, am 24. Januar 2006, wird in London der Gesamtsieger aus allen fünf Whitbread-Kategorien verkündet (mehr darüber hier am 25. Januar), bereits sechs Wochen später, am 17.03.2005, erscheint die deutsche Übersetzung bei Rowohlt.


Tash Aws Romandebut The Harmony Silk Factory bei Fourth Estate aus dem Jahr 2005 begibt sich im Szenarium des 2. Weltkriegs und der japanischen Invasion auf die Spur von drei Männern und einer Frau in den Dickicht des malaiischen Dschungels, der, ganz in der Nachfolge Faulkners, Conrads, Flauberts und Nabokovs, auch Spiegel der persönlichen und gesellschaftlichen Seelen-Landschaften der Protagonisten ist: Johnny Lim ist zu Beginn des Romans, der von seinem Sohn Jasper erzählt wird, bereits tot. Er hat während des Krieges einen britischen Minenbesitzer getötet, ist geflüchtet und schnell zum unumstrittenen Antihelden des gesichtslosen Kintatals geworden. Er schreckt auch weiterhin nicht vor Mord, Totschlag und Verrat zurück, solange es seinen geschäftlichen Interessen dient. Berichtet wird dies aber nicht nur – wie in der im Folgenden übersetzten Einleitung - von seinem despektierlich-kritischen Sohn, sondern im zweiten Teil mit Hilfe des Tagebuchs seiner verstorbenen Frau Snow Soong, die ihre Hochzeitsreise in den Urwald in Begleitung des Minenbesitzers Honey, des schleimigen Ästheten Wormwood und des japanischen Psychopathen Kunichika darin festgehalten hat. Im letzten Drittel des Buches gesellen sich zu diesen beiden Stimmen die Erinnerungen des gealterten Peter Wormwood, der zur Rehabilitation seines homoerotischen Freundes Johnny auf seinem Alterssitz ein Paradiesgärtlein anlegen will ...
Für europäische Leser, die unvorbereitet und ohne persönliche Beziehung mit asiatischer Gedanken- und Gefühlswelt in der Regel größere Verstehensprobleme haben, sind Beurteilung der Charaktere und Nachvollzug ihrer Handlungen und deren Motivation auch in diesem fiktionalen Rahmen nicht leicht. Für eine multikulturelle Kunst und Kultur wie der englischsprachigen bietet sich aber im Versuch der einfühlsamen Rezeption ihrer literarischen Sprach-Kulturen ein Verständnispotential, das im Original wie in der Übersetzung Maßstäbe für globale Verständigung setzt: Leicht ist das nicht – für beide Seiten ...
Die deutsche Übersetzung von Pociao und Roberto de Hollanda erscheint am 17.03.2006 unter dem Titel Die Seidenmanufaktur „Zur schönen Harmonie“ bei Rowohlt (ISBN 3-498-00071-3, 22,90 €).

Zum Original:


http://books.guardian.co.uk/bookerprize2005/
story/0,16347,1551614,00.html


Meine Übersetzung:


Teil 1: Johnny
Einleitung

Seidenmanufaktur Harmonie ist der Name der Fabrikhalle, die mein Vater 1942 als Fassade für seine unerlaubten Geschäfte kaufte. Von außen erscheint das Gebäude unauffällig. Erbaut in den frühen Dreißigern von chinesischen Wanderarbeitern (jenen Kulis, von denen ich sehr wahrscheinlich abstamme), ist es das größte Bauwerk an der Hauptstraße, die sich durch die gesamte Stadt zieht. Hinter seiner schlichten, weiß getünchten Fassade befindet sich ein riesiger grottendüsterer Raum, der ursprünglich bestimmt war, leichtes Gerät und ein paar namenlose Fronarbeiter zu beherbergen. Die Wandschränke aus Teakholz, die mein Vater zu der Zeit einbauen ließ, als er die Fabrik erwarb, umrahmen immer noch den Raum. Sie waren dazu bestimmt, Stoffballen aufzunehmen und auszustellen, aber wenn ich mich recht erinnere, wurde sie dafür nie benutzt, sondern statt dessen angefüllt mit Schachtel voller Damenunterwäsche aus England, die mein Vater mit Hilfe seiner Beziehungen im Hafen gestohlen hatte. Viel später, als er schon sehr berühmt und sehr reich war – der Patriarch des gesamten Tals – beherbergten die Wandschränke seine Sammlung historischer Waffen. Das Herzstück dieser Ausstellung war ein riesiger Kris, dessen besonders gewellte Klinge auf seine Herkunft schließen ließ: Meinem Vater zufolge gehörte er Hang Jebat, jenem legendären Krieger, der im 16. Jahrhundert, wie wir alle wissen, gegen die portugiesischen Eroberer kämpfte. Immer wenn Vater diese Geschichte erzählte, lag in seiner sonst eher ausdruckslosen Stimme regelmäßig eine raue, beinahe theatralische Ernsthaftigkeit, die seine Besucher durch ihre Ähnlichkeit mit Jebat beeindruckte – zwei große Männer im Kampf gegen fremde Unterdrücker. Er besaß auch die bei den Gurkhas üblichen Kukris, die mit ihren krummen Klingen für schnelle Entleibung sorgen, ferner japanische Samuraischwerter und juwelenbesetzte Dolche aus Rajasthan. Alle seine Gäste bewunderten sie.
Fast vierzig Jahre lang war die Seidenmanufaktur Harmonie das bedeutendste Unternehmen im Lande, aber jetzt steht sie leer und still und verstaubt. Der Tod löscht alle Spuren, alle Erinnerungen an Lebewesen, die einmal existierten, vollständig und für immer. Das sagte Vater einmal zu mir. Ich glaube, es war das einzige Mal, das er die Wahrheit sagte.

Wir wohnten in einem Haus, das von der Fabrik durch einen kleinen moosbewachsenen Innenhof getrennt war, in den nie ein Sonnenstrahl fiel. Mit der Zeit, als mein Vater immer mehr Besucher empfing, wurde auch das Haus als Seidenmanufaktur Harmonie bekannt, teilweise der Einfachheit halber, weil alle, die in das Haus kamen auch wegen ihrer Geschäfte kamen, teilweise weil die vielfältigen Interessen meines Vaters sich auf Bereiche von Freizeit und Unterhaltung der besonderen Art ausgedehnt hatten. Deshalb war es für Besucher einfacher zu sagen „Ich habe in der Seidenmanufaktur Harmonie zu tun“ oder schlicht „Ich gehe mal in die Seidenmanufaktur Harmonie“.

Unser Haus konnte nicht von jedem aufgesucht werden. Zutritt war nur auf persönliche Einladung gestattet, und nur wenige Auserwählte kamen herein. Um eingeladen zu werden, musste man wie mein Vater sein, mit anderen Worten, ein Lügner, Betrüger, Verräter und Schürzenjäger. Und das auf höchstem Niveau.

Von meinem Fenster im Obergeschoss sah ich, wie sich alles entwickelte. Ohne dass Vater mir je etwas sagen musste, wusste ich, mehr oder weniger, was er vorhatte und mit wem er zusammen war. Hauptsächlich schmuggelte er Opium und Heroin und Hennessy X.O. Das alles verkaufte er auf dem Schwarzmarkt von KL für ein Vielfaches von dem, was er den Thaisoldaten auf der anderen Seite der Grenze dafür bezahlt hatte, die er auch mit amerikanischen Zigaretten und minderwertigen Edelsteinen bestach. Einmal kam ein thailändischer General zu uns. Er hatte ein billiges graues Hemd an und seine Zähne waren aus Gold, massivem echten Gold. Er sah nicht wie ein Soldat aus und fuhr einen Mercedes-Benz mit einer Frau auf dem Rücksitz. Sie hatte hellen Teint, fast schneeweiß wie die Salzfelder an der Küste. Sie rauchte eine Nelkenzigarette und hatte eine weiße Chrysantheme im Haar.

Vater schickte mich nach oben. Er sagte: „Mein Freund der General ist gekommen.“
Sie schlossen sich in Vaters Hinterzimmer ein, und obwohl ich den Linoleumbelag hochhob und mein Ohr an die Dielen presste, konnte ich nichts hören außer dem leisen Klirren von Gläsern und dem schwachen, gedämpften Grummeln, das entstand, wie ich inzwischen wusste, wenn ungeschliffene Diamanten auf dem grün bespannten Tisch ausgeschüttet wurden.
Ich winkte der Frau im Auto zu. Sie war jung und schön, und als sie lächelte, sah ich, dass ihre Zähne klein und braun waren. Sie lächelte mir immer noch zu, als das Auto schon fortfuhr, wobei es eine Staubwolke aufwirbelte und Fahrräder anhupte, als es auf der Hauptstraße beschleunigte. Damals sah man in dieser Gegend selten teure Autos und mondäne Frauen, aber wenn, dann in der Nähe unseres Hauses. Keiner von unseren Besuchern hat mich je bemerkt, keiner außer jener Frau mit ihrem hellen Teint und ihren schlechten Zähnen.

Vater erzählte ich von dieser Frau und wie sie mich angelächelt hatte. Seine Reaktion war wie erwartet. Er langte langsam nach meinem Ohr und drehte es kräftig, bis alles Blut daraus entwich. „Erzähl keine Geschichten“, sagte er und dann gab er mir zwei Ohrfeigen.
Ich hatte mich schon an diese Art von Strafe gewöhnt, ehrlich.

Auch wenn ich noch jung war, wusste ich genau, was mein Vater tat. Ich war nicht gerade stolz darauf, aber mich kümmerte es auch nicht. Heute würde ich alles dafür geben, wenn ich bloß der Sohn eines gewöhnlichen Lügners und Betrügers wäre, denn das war, wie ich schon gesagt habe, längst nicht alles. Von allen schlechten Dingen, die er je getan hat, ereigneten sich die schlimmsten lange vor den großen Autos, den schönen Frauen und der Seidenmanufaktur Harmonie.

Jetzt ist es an der Zeit, seine Geschichte zu erzählen. Endlich habe ich meine durch Verbrechen finanzierte Erziehung gut genutzt, um jeden einzelnen Artikel in allen Büchern, Zeitungen und Journalen zu lesen, der über meinen Vater berichtet, um die wahre Geschichte, was geschehen ist, zu begreifen. Mehr als nur ein paar Jahre meines nutzlosen Lebens habe ich für dieses Vorhaben aufgewandt und in Bibliotheken und sogar Regierungsbüros zugebracht. Mein Ehrgeiz war erstaunlich. Ich gebe gern zu, dass ich nie ein Forschertyp war, aber die letzte Zeit hat bewiesen, dass ich zu vernünftigem, logischem Vorgehen fähig bin, trotz der Ansicht meines Vaters, ich würde immer ein Träumer und Taugenichts bleiben.